Gregor Paul
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Die Strukturierung der Welt als Funktion kultureller und insbesondere einzelsprachlicher Spezifika?
Kritische Thesen (2000)

 

Gregor Paul

 

1. Vor allem die seit 1990 geführte Diskussion um die Menschenrechte hat die Frage, ob ethische und moralische Werte eine Funktion spezifischer Kultur seien und mit dieser Frage das noch grundsätzlichere Problem, wieweit die Weltsicht des Menschen Funktion seiner Kultur sei, wieder zu einem viel erörterten Thema werden lassen. Die dabei auch vertretenen und insbesondere von offizieller politischer Seite ins Spiel gebrachten kulturrelativistischen Auffassungen sind meines Erachtens jedoch nur soweit interessant, wie mit ihnen in irgendeiner Hinsicht relevante unrevidierbare Inkompatibilität – vor allem also eine nicht zu beseitigende Unvereinbarkeit grundlegender Erkenntnis- und Kommunikationsweisen und moralischer Normen oder Werte – behauptet wird. Denn sowie eingeräumt wird, dass sich prinzipiell jede auch nur halbwegs relevante Inkompatibilität ausräumen lässt und man sich dafür entschieden hat, sie in der Tat zu beseitigen, stellt sich nur noch die Frage, wann und wie dies geschehe könne und geschehen solle. Die Verwirklichung mag noch so schwierig sein. Wenn man keinen radikal kulturrelativistischen Standpunkt vertritt, ist sie möglich. In eigenen Studien habe ich freilich wiederholt zu zeigen versucht, dass radikaler Kulturrelativismus unhaltbar ist. Dabei habe ich mich mit unterschiedlichsten Formen des Kulturrelativismus auseinandergesetzt: Varianten, die von einer Inkompatibilität der von Kultur zu Kultur verschiedenen Weisen der Erkenntis, Kommunikation und Problemlösung – wie insbesondere sogenannten unterschiedlichen Logiken, differenten Kausalitätskonzepten und unterschiedlichen Methodologien der Relation zwischen Sein und Sollen – ausgehen; Varianten, die sich auf angeblich grundsätzlich andere ethische Normen – wie den sogenannten Individualismus und Kommunitarismus – berufen; ja, selbst mit Varianten, die kulturell grundverschiedene ästhetische Auffassungen annehmen. Ausführliche Auseinandersetzungen mit meinen entsprechenden Argumenten sind mir nicht bekannt. Aber ich begegne immer wieder diffuser Ablehnung, ja Abneigung. Zum Teil sind solche Gefühle durch die Unkenntnis meiner Studien bedingt. Insbesondere ausführliche und diffizile Erörterungen von Fragen der Logik sind für viele verständlicher Weise einfach unwillkommene Lektüre. Dazu kommt dann schnell der Verdacht, ich sei ein dogmatischer Universalist oder doch zumindest ein unheilbarer Eurozentriker. Auch mit solchen Vorbehalten habe ich mich mehrfach auseinandergesetzt. Aber auch diese Argumente sind meines Wissens bisher von Vertretern der Hypothese etwa einer "spezifisch östlichen" (nicht "zweiwertigen") Logik, von Anhängern der Kyôto-Schule oder von Sinologen und Kulturwissenschaftlern wie Roger Ames und David Hall nicht zur Kenntnis genommen worden. Da die Argumente gegen den Vorwurf des Eurozentrismus von grundlegender Relevanz sind, wiederhole ich die wichtigsten von ihnen in Kürze:

(a) Wenn ich z.B. ein in chinesischen Kulturen entwickeltes Philosophem kritisiere, dann kritisiere ich auch entsprechende in europäischen Kulturen entwickelte Philosopheme. Kritisiere ich etwa dualistische Ansätze des chinesischen Philosophen Zhu Xi (1130-1200), dann kritisiere ich den Dualismus Platos noch schärfer.

(b) Wenn ich einen chinesischen Philosophen kritisiere, dann zitiere oder referiere ich dabei auch andere chinesische Philosophen, die vergleichbare – und oft noch härtere – Kritik am infrage stehenden Philosophen geäußert haben. Geht es um Zhu Xi, so zitiere ich z.B. Dai Zhens (1723-1777) Kritik. Während ich die Unklarheit, den dualistischen Aspekt und die inhumanen Implikationen von Zhu Xis Begriff des Prinzips (li)  bemängele, sagt Dai Zhen gerade heraus, dass li Menschen töte oder töten könne.

(c) Ein Asiate, der meint, dass kein Europäer einen Asiaten kritisieren könne oder dürfe, dürfte dies gar nicht behaupten. Denn woher will er wissen, dass er – als Asiate – in der Lage ist, zu beurteilen, ob der Europäer treffende Kritik zu äußern vermag oder nicht. Anders gesagt, ist es unmöglich, fremdkulturelle Kritik aus fremdkultureller Perspektive zu kritiseren, indem man ihr einfach ihre fremde Sicht ankreidet. Einen Chinesen könnte man übrigens "mit eigenen Waffen schlagen". Man bräuchte nur auf Zhuang Zis (369-286) so schöne wie brillante Anekdote über zwei Männer zu verweisen, die Fische beobachten und sich darüber unterhalten, ob so etwas wie die "Freude der Fische" (auch) Nicht-Fischen begreiflich sei. Paraphrasierend gebe ich einen Teil des Wortwechsels wieder:

"Wie sich die Fische freuen!"

"Du bist kein Fisch! Woher willst du wissen, dass sich die Fische freuen?"

"Du bist nicht ich! Woher weißt du, was ich wissen kann?"

"Gut. Da ich nicht du bin, kann ich nichts über dich wissen. Aber da du kein Fisch bist, kannst du dann auch nichts über Fische wissen."

"Als du mich fragtest, woher ich wüsste, dass sich die Fische freuen, wusstest Du bereits, dass ich es wusste."

 

Im Folgenden liste ich die wichtigsten, von mir andernorts umfassender und detaillierter  formulierten Argumente auf, die meines Erachtens jeden radikalen Kulturrelativismus – jede Hypothese, dass es Weltauffassungen gebe, die aufgrund unterschiedlicher kultureller Voraussetzungen prinzipiell inkompatibel seien – ad absurdum führen. Sie sollen auch in Kürze deutlich machen, dass ich weit davon entfernt bin, einen dogmatischen Universalismus zu vertreten oder, anders gesagt, bestehende kulturelle Differenzen zu leugnen oder in ihrer Relevanz gering zu schätzen. Ich bleibe freilich bei der Auffassung, dass sich prinzipiell jeder Mensch soweit mit jedem anderen verständigen kann, dass er begreift, was der andere meint oder glaubt oder für gut und wertvoll hält, auch wenn er dem anderen dabei oft nicht zustimmen kann oder will. Dass Zustimmung häufig so schwierig und – bei gleichbleibenden Voraussetzungen – faktisch unmöglich ist, hat viele Ursachen und Gründe, ist aber, wie ich betone, nicht darauf zurück zu führen, dass prinzipiell keine grundsätzliche Einigung möglich wäre. Einige der Ursachen und Gründe mögen in der extrem spezifischen Qualität der Differenzen liegen. Dazu gehören etwa die Differenzen, die in individuellen biologisch (mit)bestimmten Dispositionen wurzeln. Andere liegen zum Beispiel in fundamentalistischen Einstellungen. Solche Einstellungen zu ändern, ist oft unmöglich, wenn man sich an den einzelnen Menschen wendet. Man mag ganze Gruppen einbeziehen und Jahrzehnte ansetzen müssen. Wieder ein anderes Beispiel ist das harte Faktum, auf eine bestimmte Lebenswelt – etwa den südamerikanischen Urwald – angewiesen zu sein, um überhaupt überleben oder jedenfalls in akzeptabler Weise leben zu können. Auch hier dürften Veränderungen – sofern gewollt und gebilligt – ganze Gruppen in Betracht ziehen müssen und zwei Jahrzehnte dauern. Und wir alle wissen schließlich aus eigener Erfahrung, wie schwer wir uns tun, einem von uns durchaus als gültig erkanntem Argument nachzugeben, wenn es unseren Neigungen und Hoffnungen entgegen steht. Die Kluft zwischen Einsicht und Tat wird vielleicht stets ein menschliches Problem bleiben. Doch damit zu den einzelnen Argumenten.

 

2. Wahrnehmung, Erkenntnis oder wie immer menschliche Wahrnehmung und Erkenntnis von Gegenständen bezeichnet werden mag, ist Funktion subjektiver (dem Subjekt Menschen als Menschen eigener) und objektiver (dem Erkenntnisgegenstand als solchem eigenen) Faktoren. Dabei sind die sogenannten objektiven Faktoren niemals als, Kantisch gesprochen, "Dinge an sich" oder, buddhistisch ausgedrückt, "wahre Wirklichkeit" fassbar. Sofern sie vom Menschen bemerkt, wahrgenommen, erkannt werden etc., sind sie bereits auch Funktion subjektiver Faktoren. Diese subjektiven Faktoren lassen sich vielleicht als biologische, neurologische und andere, nicht auf Physisches oder Materiales reduzierbare Komponenten bezeichnen. Sie sind weniger als feste Merkmale denn als Dispositionen zu begreifen, die der Ausbildung bedürfen, um überhaupt wirksam werden zu können. Sie lassen sich z.B. als Funktionen folgender Art auffassen: mit jeder "Einsetzung" – jedem Imput, jedem Umwelteinfluss – ändert sich die Funktion, der subjektive Wahrnehmungsmechanismus selbst, so dass jede weitere "Einsetzung" dann einem - wenn auch leicht und schließlich in jeder relevanten Hinsicht insignifikant – veränderten Mechanismus unterworfen wird. "Zusammensetzung", "Zusammenspiel", "Wechselwirkung", "Ordnung" und "Steuerung" der subjektiven und objektiven Faktoren führen auf schwierige Fragen, die Thema unzähliger, teilweise sehr spezifischer Fachliteratur sind und außer Acht gelassen werden müssen.

 

Wichtig ist im gegebenen Zusammenhang, dass es jedenfalls subjektive Faktoren – Dispositionen – des Wahrnehmens und Erkennens gibt, die allen Menschen als Menschen – als Lebewesen einer biologischen Gattung – gemeinsam sind. Dazu ist auch die körperliche Beschaffenheit des Menschen zu rechnen: so etwa die – oft verächtlich als trivial im Sinn von irrelevant und uninteressant bezeichneten – Eigenschaften, zwei Hände zu haben und Augen zu besitzen, die sich z.B. von Adler- Bienenaugen unterscheiden. Auch die Tatsache, dass die Menschen ein anderes Kälte-, Hitze- und Schmerzempfinden haben als viele andere Tierarten, gehört dazu.

 

3. Der Kantische transzendentalphilosophische Ansatz dürfte immer noch soweit treffend sein, als bestimmte subjektive Bedingungen der Möglichkeit jeder Erfahrung anzunehmen sind, die in relevanter Hinsicht von spezifischen Erfahrungen unabhängig sind. Dazu gehören, grob gesagt, Voraussetzungen logischen und kausalen Denkens.

 

4. Unbestreitbar ist andererseits, daß bestimmte umweltliche und kulturelle Spezifika zu unterschiedlichen Beschreibungen und Erklärungen von Gegenstandsklassen und -relationen führen können. So macht es sicherlich einen Unterschied, ob man nur drei oder zwölf Farbwörter besitzt. Das Farbspektrum "der Welt" wird damit unterschiedlich charakterisiert. Es leuchtet auch ein, dass Menschen, die sprachlich nicht explizit zwischen irgendwie linienförmigen Gestalten wie Lianen und euklidischen Geraden unterscheiden, ja gar nur ein Wort wie "Liane" kennen, um entsprechende Formen zu bezeichnen, auch eine Tischkante "Liane" oder "linanenförmig" nennen werden, wenn sie eine solche Kante zum ersten Mal sehen.

 

5. Das bisher Gesagte dürfte in seiner Allgemeinheit letztlich unstrittig sein. So ist das fragliche Problem – die Frage nach Universalität und Partikularität, insbesondere kulturell bedingter Partikularität, von Wahrnehmen, Erkennen und Urteilen – spezifischer zu fassen. Es ist zu fragen, wann, in welcher Weise und warum wahrnehmungs- und erkenntniskennzeichnende Gemeinsamkeiten und Unterschiede signifikant und/oder relevant sind. Dass Menschen ihre Welt gemäß ihren unterschiedlichen Farb- und Geometrievokabeln unterschiedlich strukturieren, erscheint in vielerlei Hinsicht irrelevant, mag es auch gelingen, Ausnahmen anzuführen. Wichtig ist in solchen Zusammenhängen zudem, dass jemand, der etwa nur das Wort "Liane" kennt, prinzipiell fähig ist, auch Wort und Begriff der euklidischen Geraden zu lernen. Wie in so vielen anderen Fällen existieren "auf höherer Ebene" auch begrifflich-logische und biologisch-neurologische Gemeinsamkeiten. Ähnliches gilt für unterschiedliche Wahrnehmungen oder Erkenntnisse in der Ferne auslaufender, verschwindender Schienenstränge. Weiß man nicht, dass sie - in bestimmten Sinn - parallel verlaufen, so wird man logischerweise auf ihr Zusammentreffen schließen können. Man muss sich ja auch fragen, warum es dem, der Begriffe wie "Gerade" oder "Parallele" kennt, nichtsdestoweniger so leicht fällt, abweichende Auffassungen nachzuvollziehen und sogar für vernünftig zu halten. Unsere Wahrnehmung und Erkenntnis lässt sich eben idealiter in Form von Klassen von Wenn-dann-Sätzen rekonstruieren. Und da bestimmte logische und kausale Prinzipien prinzipiell allen Menschen als Orientierung dienen, ist prinzipiell stets Übereinstimmung erreichbar, wenn die Prämissen gemeinsam sind. Diese Gemeinsamkeit ist durch Reduzierung oder Ergänzung von Prämissenmengen – z. B. durch Subtraktion oder Addition von "Parallelenkonzept" – erreichbar. Sofern man nur zugesteht, dass interkulturelle Kommunikation auch ein gemeinsames Potential nutzender Lernprozess ist und sein darf, werden viele kulturell bedingte Unterschiede irrelevant.

Und auch der "Objektanteil" (ein Konzept auch buddhistischer Erkenntnistheorie) spielt anscheinend prinzipiell eine Gemeinsamkeit begünstigende Rolle, ist er nur hinreichend komplex und in irgendwie geeigneter Weise begrenzt.

 

6. So kommt ein sehr schwieriges methodologisches Problem ins Spiel. Rein logisch gesehen, lässt sich alles verallgemeinern und spezifizieren. Es kommt also darauf an, auszuführen, warum man etwas für so wichtig hält, dass man es als Übereinstimmung oder als Unterschied namhaft macht. Ich spreche gern davon, dass man auch zwei Hühnereier voneinander unterscheiden könne, aber dass danach kein Hahn krähe. Interessant ist im gegebenen Zusammenhang auch die bekannte Episode aus Gullivers Reisen, der zufolge ein Krieg über die Frage ausbrach, ob man ein Ei am spitzen oder stumpfen Ende aufschlagen solle. Zweifellos ein, wenn auch konstruiertes, Beispiel für irrige Relevanzannahmen. Fundamentalismen etc. ausgenommen, kenne ich keine kulturspezifischen unterschiedlichen Strukturierungen der Welt, die ich für gravierend hielte.

 

7. Was nun etwa die sogenannte Sinneswahrnehmung angeht, so wird m.E. zu wenig beachtet, wie groß die transkulturellen Übereinstimmungen schon in ästhetischen Auffassungen sind. Marx hatte Recht, als er feststellte, dass der Mensch "nach den Gesetzen des Schönen" "formiere". In verschiedenen Arbeiten habe ich Beispiele für frappierende Übereinstimmungen gegeben. Ich spreche lediglich einige davon an:

 

(a) Trotz aller Unterschiedlichkeit sogenannter Schönheitsideale sind wir uns in unseren ästhetischen Urteilen über menschliche Gesichter und menschliche Gestalt weitgehend einig.

(b) Es gibt eine Reihe von denkbar verschiedenartigen Kunstwerken, die während ihrer ganzen Rezeptionsgeschichte und dabei von der überwältigenden Mehrheit der Menschen, deren Urteile bekannt sind, ästhetisch positiv bewertet wurden. Entsprechendes gilt für bestimmte Naturphänomene wie etwa den Sternenhimmel, berühmte Wasserfälle oder Konturen von Sandbergen in der Sahara.

(c) Es gibt unzählige Abhandlungen über künstlerische Regeln, die von der Überzeugung bestimmt sind, dass solche Regeln existieren und dass sie gekannt und befolgt werden sollten.

(d)  Fast soweit die Geschichte der Schriftsprache zurückreicht, hat es in irgendeinem Sinn Kunstkritik gegeben. Ein sehr altes Beispiel ist die um 2000 vor Christus formulierte ägyptische Lehre des Ptahhotep, die unter anderem von “schöner Rede” spricht und die einer Art Poetologie folgt.

(e) Es würde keine Lyrik-Übersetzungen, keine Ausstellungen japanischer Bildender Kunst in Europa (und umgekehrt), keine Aufführungen der Peking-Oper in London oder eines russischen Balletts in den USA geben, wären wir nicht überzeugt, dass prinzipiell alle Menschen alle Kunstwerke in irgendwie übereinstimmender Weise ästhetisch beurteilen können.

(f) Seit je wohl war die Entwicklung der Kunst durch konvergierende Tendenzen gekennzeichnet. Die Kunstwerke verschiedener Kulturkreise werden sich immer ähnlicher. Oder sie zeichnen sich durch wachsende und zunehmend akzeptierte Pluralität aus. Schon in der Steinzeit wurden bestimmte Kunstformen einer Kultur von anderen Kulturen übernommen. So hat sich der bereits um 11000 vor Christus (oder noch früher) auftretende Röntgenstil der Jägerkulturen - der die inneren Organe von Tieren wiedergibt - von Europa nach Asien und von da aus nach Australien und Amerika verbreitet.

(g) Genauso bemerkenswert wie das Bestehen konvergierender Tendenzen ist die Existenz verblüffend ähnlicher Kunstformen, die unabhängig voneinander entstanden sind. Man denke an Beispiele aus der Architektur und Ornamentik.

(h) Die häufigen langen und “heißen” Diskussionen über ästhetische Fragen wären völlig sinnlos, gründeten sie nicht in der Überzeugung, dass es prinzipiell möglich sei, sich zu “verständigen”.

 

8. Zum Verhältnis von spezifischer menschlicher Sprache zu menschlicher Sprache überhaupt sowie zu grundlegenden Fragen der Logizität und Ethik ebenfalls nur einige stichwortartige Anmerkungen, da ich mich auch zu diesen Problemen mehrfach geäußert habe.

 

(a) So spezifisch eine menschliche Sprache auch sein mag, sie bleibt doch eine menschliche Sprache. Damit kommen alle für die Hypothese der Existenz einer Universalen Grammatik formulierten Argumente (aber natürlich auch entsprechende Gegenargumente) ins Spiel.

(b) Logische Prinzipien bestimmen einzelsprachliche Grammatiken (geben die Rahmenbedingun­gen einzelsprachlicher Grammatiken ab) und nicht umgekehrt.

(c) Grammatikalische Kategorien dürfen nicht mit logischen Kategorien identifiziert werden. So unterscheiden denn auch "westliche" wie indische, chinesische und japanische Logiktheoretiker explizit zwischen Kategorien wie Genus und Spezies einerseits und grammatikalischem Subjekt und Prädikat andererseits bzw. zwischen dharma, fa und (Eigenschaft) und dharmin, youfa, uhô (Eigenschaftsträger) einerseits und grammatikalischen Konzepten andererseits.

(d) Unterschiedliche sprachliche Schlußfiguren (wie Syllogismen), unterschiedliche Quantoren, der Gebrauch oder Verzicht auf sprachlich explizite Kopulas und Junktoren (ausgenommen Negationsausdrücke?) sind logisch irrelevant.

(e) In der Diskussion der Frage nach der Allgemeingültigkeit logischer Prinzipien ist zwischen (1) gewissermaßen metalogischen Gesetzen - nämlich Gesetzen, die selbst in die Formulierung einzelner Theorien der Logik eingehen -, (2) in einzelnen Theorien der Logik formulierten Prinzipien und (3) impliziten und expliziten Anwendungen logischer Prinzipien zu unterscheiden. In einzelnen Theorien der Logik formulierte Prinzipien sind dabei oft irrelevant. Außerdem sind sogenannte materiale Logiken - unmittelbare oder mittelbare Theorien inhaltlich bestimmter Strukturen - außer Acht zu lassen.

 

(f) Die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen ist unabhängig von einzelsprachlicher Grammatik und selbst unabhängig davon, ob es in einer Sprache ein eigenes Wort für "Sollen" gibt. Jeder Mensch, der – wie im einzelnen auch immer – die Meinung äußert, dass dies oder jenes besser unterlassen worden wäre oder dass dies und nicht jenes zu tun sei, artikuliert eine solche Unterscheidung. Anders gesagt, braucht man kein eigenes Wort für "sollen", um auszudrücken, dass eine bestimmte Handlung vollzogen werden oder unterlassen werden sollte oder dass sie hätte vollzogen werden sollen. Mittlerweile hat sich übrigens auch im Deutschen das normative Präsens eingebürgert. Zeitungsanzeigen, mit denen nach Arbeitskräften gesucht wird, enthalten immer häufiger Formulierungen wie "NN beherrscht das Textverarbeitsungssystem T". Gemeint ist natürlich, dass NN dies System beherrschen sollte. Und kein kompetenter Sprecher dürfte einen solchen Satz anders verstehen. Wenn es also im klassischen Chinesisch hieß oder heißt "Der Beamte steht früh auf", so war und ist klar, dass der ideale Beamte früh aufstehen sollte. Die voluminöse sinologische Literatur über die angebliche "Einheit" von Sein und Sollen in der traditionellen chinesischen Kultur oder über die mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft, Differenzen zwischen Sein und Sollen sehen zu wollen, bleibt eine akademische Groteske.

(g) Universale moralische Prinzipien wie die Goldene Regel oder das Verbot zu morden sind keine Funktionen einzelsprachlicher Besonderheiten.

 

(h) Ich vermag auch nicht zu erkennen, wie einzelsprachliche Spezifika – als solche – die allltagsrelevanten allgemeinen Kausalitätsvorstellungen prägen könnten. Magische, religiöse und ähnlich "übernatürliche" Kausalitätsvorstellungen sind kein (primär) sprachliches Spezifikum.

 

Vielleicht läßt sich die Leitfrage wie folgt reformulieren:

 

Wie verschieden sind verschiedene Umwelten und insbesondere kulturelle Kontexte überhaupt? Welche Unterschiede sind dabei überhaupt relevant? Und in welcher Hinsicht und warum? Wie spezifisch sind sie? Sind im Zuge der Entwicklung kulturell bedingter Wahrnehmung entstandene Unterschiede irreversibel (wie etwa der Lautverlust)? Und falls nicht, wie relevant ist das Moment ihrer prinzipiellen Reversibilität? Können kulturell – und vor allem sprachlich – bedingte spezifische Imputs so unterschiedlich sein, dass sie als die Ausgangsbedingungen gegebenen subjektiven, objektiven und in allgemeinen Subjekt-Objekt-Relationen bestehenden Übereinstimmungen eliminieren oder so­weit reduzieren, dass diese irrelevant oder insignifikant werden?

 

Treten gravierende kommunikative Probleme nicht wirklich erst da auf, wo eine Argumentationslage gleichermaßen begründete divergierende Entscheidungen zulässt – bei Dilemmata etwa – oder wo Beteiligte stichhaltige Argumente nicht ernst nehmen oder ernst nehmen können? Letzteres aber ist, wie gesagt, alltäglich. Selbst die Weigerung, ein Argument überhaupt zur Kenntnis zu nehmen – ja, auch nur den Versuch zu machen, ein womöglich unwillkommenes Argument als solches zu identifizieren – und einem als gültig erkannten Argument nachzugeben, dürfte, wie ebenfalls angesprochen, fast allen aus eigener Erfahrung vertraut sein.

 

Literatur

 

Ames, Roger, and David Hall, The Democracy of the Dead: Dewey, Confucius, and the Hope for Democracy in China, Chicago, Lasalle: Open Court 1998

Graham, Angus (Übers.), Chuang-tzu [Zhuangzi]: The Seven Inner Chapters and other Writings from the Book "Chuang-tzu", London: George Allen & Unwin 1981

Paul, Gregor, Aspects of Confucianism, Frankfurt a.M., New York: Lang 1990

Paul, Gregor, Der Mythos von der modernen Kunst, Wiesbaden: Steiner 1985

Paul, Gregor, Mythos, Philosophie und Rationalität, Frankfurt a.M.: Lang 1988

Paul, Gregor, Philosophie in Japan, München: iudicium 1993

Paul, Gregor, Argumente für die Universalität der Logik [...]. Hôrin: Vergleichende Studien zur japanischen Kultur 1, München: iudicium 1994, S. 57-86

Paul, Gregor, Tradition und Norm: Ein Beitrag zur Frage nach der Universalität moralischer Werte. Hôrin: Vergleichende Studien zur japanischen Kultur 4, 1997, S.13-47

Paul, Gregor, Kulturelle Identität: ein gefährliches Phänomen? Interkulturelle Philosophie und Phänomenologie in Japan, hg. von M. Lazarin, T. Ogawa und G. Rappe, München: iudicium, S. 113-138

Paul, Gregor, Probleme, Ziele und Relevanz einer Theorie universaler Logik. Unter besonderer Berücksichtigung sinologischer Interessen. minima sinica 1/1998, S. 40-69

Paul, Gregor, Kausalität. Eine Problemskizze. Hôrin 6/1999, S. 11-36