Die Strukturierung der Welt als Funktion kultureller und insbesondere einzelsprachlicher
Spezifika?
Kritische Thesen (2000)
Gregor Paul
1. Vor allem die seit 1990 geführte Diskussion um die Menschenrechte hat
die Frage, ob ethische und moralische Werte eine Funktion spezifischer Kultur
seien und mit dieser Frage das noch grundsätzlichere Problem, wieweit die
Weltsicht des Menschen Funktion seiner Kultur sei, wieder zu einem viel erörterten
Thema werden lassen. Die dabei auch vertretenen und insbesondere von offizieller
politischer Seite ins Spiel gebrachten kulturrelativistischen Auffassungen
sind meines Erachtens jedoch nur soweit interessant, wie mit ihnen in irgendeiner
Hinsicht relevante unrevidierbare Inkompatibilität – vor allem also eine nicht
zu beseitigende Unvereinbarkeit grundlegender Erkenntnis- und Kommunikationsweisen
und moralischer Normen oder Werte – behauptet wird. Denn sowie eingeräumt
wird, dass sich prinzipiell jede auch nur halbwegs relevante Inkompatibilität
ausräumen lässt und man sich dafür entschieden hat, sie in der Tat zu beseitigen,
stellt sich nur noch die Frage, wann und wie dies geschehe könne und geschehen
solle. Die Verwirklichung mag noch so schwierig sein. Wenn man keinen radikal
kulturrelativistischen Standpunkt vertritt, ist sie möglich. In eigenen Studien
habe ich freilich wiederholt zu zeigen versucht, dass radikaler Kulturrelativismus
unhaltbar ist. Dabei habe ich mich mit unterschiedlichsten Formen des Kulturrelativismus
auseinandergesetzt: Varianten, die von einer Inkompatibilität der von Kultur
zu Kultur verschiedenen Weisen der Erkenntis, Kommunikation und Problemlösung
– wie insbesondere sogenannten unterschiedlichen Logiken, differenten Kausalitätskonzepten
und unterschiedlichen Methodologien der Relation zwischen Sein und Sollen
– ausgehen; Varianten, die sich auf angeblich grundsätzlich andere ethische
Normen – wie den sogenannten Individualismus und Kommunitarismus – berufen;
ja, selbst mit Varianten, die kulturell grundverschiedene ästhetische Auffassungen
annehmen. Ausführliche Auseinandersetzungen mit meinen entsprechenden Argumenten
sind mir nicht bekannt. Aber ich begegne immer wieder diffuser Ablehnung,
ja Abneigung. Zum Teil sind solche Gefühle durch die Unkenntnis meiner Studien
bedingt. Insbesondere ausführliche und diffizile Erörterungen von Fragen der
Logik sind für viele verständlicher Weise einfach unwillkommene Lektüre. Dazu
kommt dann schnell der Verdacht, ich sei ein dogmatischer Universalist oder
doch zumindest ein unheilbarer Eurozentriker. Auch mit solchen Vorbehalten
habe ich mich mehrfach auseinandergesetzt. Aber auch diese Argumente sind
meines Wissens bisher von Vertretern der Hypothese etwa einer "spezifisch
östlichen" (nicht "zweiwertigen") Logik, von Anhängern der Kyôto-Schule oder
von Sinologen und Kulturwissenschaftlern wie Roger Ames und David Hall nicht
zur Kenntnis genommen worden. Da die Argumente gegen den Vorwurf des Eurozentrismus
von grundlegender Relevanz sind, wiederhole ich die wichtigsten von ihnen
in Kürze:
(a) Wenn ich z.B. ein in chinesischen Kulturen entwickeltes Philosophem
kritisiere, dann kritisiere ich auch entsprechende in europäischen Kulturen
entwickelte Philosopheme. Kritisiere ich etwa dualistische Ansätze des chinesischen
Philosophen Zhu Xi (1130-1200), dann kritisiere ich den Dualismus Platos
noch schärfer.
(b) Wenn ich einen chinesischen Philosophen kritisiere, dann zitiere oder
referiere ich dabei auch andere chinesische Philosophen, die vergleichbare
– und oft noch härtere – Kritik am infrage stehenden Philosophen geäußert
haben. Geht es um Zhu Xi, so zitiere ich z.B. Dai Zhens (1723-1777) Kritik.
Während ich die Unklarheit, den dualistischen Aspekt und die inhumanen Implikationen
von Zhu Xis Begriff des Prinzips (li)
bemängele, sagt Dai Zhen gerade heraus, dass li Menschen
töte oder töten könne.
(c) Ein Asiate, der meint, dass kein Europäer einen Asiaten kritisieren
könne oder dürfe, dürfte dies gar nicht behaupten. Denn woher will er wissen,
dass er – als Asiate – in der Lage ist, zu beurteilen, ob der Europäer treffende
Kritik zu äußern vermag oder nicht. Anders gesagt, ist es unmöglich, fremdkulturelle
Kritik aus fremdkultureller Perspektive zu kritiseren, indem man ihr einfach
ihre fremde Sicht ankreidet. Einen Chinesen könnte man übrigens "mit eigenen
Waffen schlagen". Man bräuchte nur auf Zhuang Zis (369-286) so schöne wie
brillante Anekdote über zwei Männer zu verweisen, die Fische beobachten und
sich darüber unterhalten, ob so etwas wie die "Freude der Fische" (auch) Nicht-Fischen
begreiflich sei. Paraphrasierend gebe ich einen Teil des Wortwechsels wieder:
"Wie sich die Fische freuen!"
"Du bist kein Fisch! Woher willst du wissen, dass sich die Fische freuen?"
"Du bist nicht ich! Woher weißt du, was ich wissen kann?"
"Gut. Da ich nicht du bin, kann ich nichts über dich wissen. Aber da du
kein Fisch bist, kannst du dann auch nichts über Fische wissen."
"Als du mich fragtest, woher ich wüsste, dass sich die Fische freuen, wusstest
Du bereits, dass ich es wusste."
Im Folgenden liste ich die wichtigsten, von mir andernorts umfassender und
detaillierter formulierten Argumente
auf, die meines Erachtens jeden radikalen Kulturrelativismus – jede Hypothese,
dass es Weltauffassungen gebe, die aufgrund unterschiedlicher kultureller
Voraussetzungen prinzipiell inkompatibel seien – ad absurdum führen. Sie sollen
auch in Kürze deutlich machen, dass ich weit davon entfernt bin, einen dogmatischen
Universalismus zu vertreten oder, anders gesagt, bestehende kulturelle Differenzen
zu leugnen oder in ihrer Relevanz gering zu schätzen. Ich bleibe freilich
bei der Auffassung, dass sich prinzipiell jeder Mensch soweit mit jedem anderen
verständigen kann, dass er begreift, was der andere meint oder glaubt oder
für gut und wertvoll hält, auch wenn er dem anderen dabei oft nicht zustimmen
kann oder will. Dass Zustimmung häufig so schwierig und – bei gleichbleibenden
Voraussetzungen – faktisch unmöglich ist, hat viele Ursachen und Gründe,
ist aber, wie ich betone, nicht darauf zurück zu führen, dass prinzipiell
keine grundsätzliche Einigung möglich wäre. Einige der Ursachen und Gründe
mögen in der extrem spezifischen Qualität der Differenzen liegen. Dazu gehören
etwa die Differenzen, die in individuellen biologisch (mit)bestimmten Dispositionen
wurzeln. Andere liegen zum Beispiel in fundamentalistischen Einstellungen.
Solche Einstellungen zu ändern, ist oft unmöglich, wenn man sich an den einzelnen
Menschen wendet. Man mag ganze Gruppen einbeziehen und Jahrzehnte ansetzen
müssen. Wieder ein anderes Beispiel ist das harte Faktum, auf eine bestimmte
Lebenswelt – etwa den südamerikanischen Urwald – angewiesen zu sein, um überhaupt
überleben oder jedenfalls in akzeptabler Weise leben zu können. Auch hier
dürften Veränderungen – sofern gewollt und gebilligt – ganze Gruppen in Betracht
ziehen müssen und zwei Jahrzehnte dauern. Und wir alle wissen schließlich
aus eigener Erfahrung, wie schwer wir uns tun, einem von uns durchaus als
gültig erkanntem Argument nachzugeben, wenn es unseren Neigungen und Hoffnungen
entgegen steht. Die Kluft zwischen Einsicht und Tat wird vielleicht stets
ein menschliches Problem bleiben. Doch damit zu den einzelnen Argumenten.
2. Wahrnehmung, Erkenntnis oder wie immer menschliche Wahrnehmung und Erkenntnis
von Gegenständen bezeichnet werden mag, ist Funktion subjektiver (dem Subjekt
Menschen als Menschen eigener) und objektiver (dem Erkenntnisgegenstand als
solchem eigenen) Faktoren. Dabei sind die sogenannten objektiven Faktoren
niemals als, Kantisch gesprochen, "Dinge an sich" oder, buddhistisch ausgedrückt,
"wahre Wirklichkeit" fassbar. Sofern sie vom Menschen bemerkt, wahrgenommen,
erkannt werden etc., sind sie bereits auch Funktion subjektiver Faktoren.
Diese subjektiven Faktoren lassen sich vielleicht als biologische, neurologische
und andere, nicht auf Physisches oder Materiales reduzierbare Komponenten
bezeichnen. Sie sind weniger als feste Merkmale denn als Dispositionen zu
begreifen, die der Ausbildung bedürfen, um überhaupt wirksam werden zu können.
Sie lassen sich z.B. als Funktionen folgender Art auffassen: mit jeder "Einsetzung"
– jedem Imput, jedem Umwelteinfluss – ändert sich die Funktion, der subjektive
Wahrnehmungsmechanismus selbst, so dass jede weitere "Einsetzung" dann einem
- wenn auch leicht und schließlich in jeder relevanten Hinsicht insignifikant
– veränderten Mechanismus unterworfen wird. "Zusammensetzung", "Zusammenspiel",
"Wechselwirkung", "Ordnung" und "Steuerung" der subjektiven und objektiven
Faktoren führen auf schwierige Fragen, die Thema unzähliger, teilweise sehr
spezifischer Fachliteratur sind und außer Acht gelassen werden müssen.
Wichtig ist im gegebenen Zusammenhang, dass es jedenfalls subjektive Faktoren
– Dispositionen – des Wahrnehmens und Erkennens gibt, die allen Menschen als
Menschen – als Lebewesen einer biologischen Gattung – gemeinsam sind. Dazu
ist auch die körperliche Beschaffenheit des Menschen zu rechnen: so etwa
die – oft verächtlich als trivial im Sinn von irrelevant und uninteressant
bezeichneten – Eigenschaften, zwei Hände zu haben und Augen zu besitzen, die
sich z.B. von Adler- Bienenaugen unterscheiden. Auch die Tatsache, dass die
Menschen ein anderes Kälte-, Hitze- und Schmerzempfinden haben als viele andere
Tierarten, gehört dazu.
3. Der Kantische transzendentalphilosophische Ansatz dürfte immer noch soweit
treffend sein, als bestimmte subjektive Bedingungen der Möglichkeit jeder
Erfahrung anzunehmen sind, die in relevanter Hinsicht von spezifischen Erfahrungen
unabhängig sind. Dazu gehören, grob gesagt, Voraussetzungen logischen und
kausalen Denkens.
4. Unbestreitbar ist andererseits, daß bestimmte umweltliche und kulturelle
Spezifika zu unterschiedlichen Beschreibungen und Erklärungen von Gegenstandsklassen
und -relationen führen können. So macht es sicherlich einen Unterschied, ob
man nur drei oder zwölf Farbwörter besitzt. Das Farbspektrum "der Welt" wird
damit unterschiedlich charakterisiert. Es leuchtet auch ein, dass Menschen,
die sprachlich nicht explizit zwischen irgendwie linienförmigen Gestalten
wie Lianen und euklidischen Geraden unterscheiden, ja gar nur ein Wort wie
"Liane" kennen, um entsprechende Formen zu bezeichnen, auch eine Tischkante
"Liane" oder "linanenförmig" nennen werden, wenn sie eine solche Kante zum
ersten Mal sehen.
5. Das bisher Gesagte dürfte in seiner Allgemeinheit letztlich unstrittig
sein. So ist das fragliche Problem – die Frage nach Universalität und Partikularität,
insbesondere kulturell bedingter Partikularität, von Wahrnehmen, Erkennen
und Urteilen – spezifischer zu fassen. Es ist zu fragen, wann, in welcher
Weise und warum wahrnehmungs- und erkenntniskennzeichnende Gemeinsamkeiten
und Unterschiede signifikant und/oder relevant sind. Dass Menschen ihre Welt
gemäß ihren unterschiedlichen Farb- und Geometrievokabeln unterschiedlich
strukturieren, erscheint in vielerlei Hinsicht irrelevant, mag es auch gelingen,
Ausnahmen anzuführen. Wichtig ist in solchen Zusammenhängen zudem, dass jemand,
der etwa nur das Wort "Liane" kennt, prinzipiell fähig ist, auch Wort und
Begriff der euklidischen Geraden zu lernen. Wie in so vielen anderen Fällen
existieren "auf höherer Ebene" auch begrifflich-logische und biologisch-neurologische
Gemeinsamkeiten. Ähnliches gilt für unterschiedliche Wahrnehmungen oder
Erkenntnisse in der Ferne auslaufender, verschwindender Schienenstränge.
Weiß man nicht, dass sie - in bestimmten Sinn - parallel verlaufen, so wird
man logischerweise auf ihr Zusammentreffen schließen können. Man
muss sich ja auch fragen, warum es dem, der Begriffe wie "Gerade" oder "Parallele"
kennt, nichtsdestoweniger so leicht fällt, abweichende Auffassungen nachzuvollziehen
und sogar für vernünftig zu halten. Unsere Wahrnehmung und Erkenntnis lässt
sich eben idealiter in Form von Klassen von Wenn-dann-Sätzen rekonstruieren.
Und da bestimmte logische und kausale Prinzipien prinzipiell allen Menschen
als Orientierung dienen, ist prinzipiell stets Übereinstimmung erreichbar,
wenn die Prämissen gemeinsam sind. Diese Gemeinsamkeit ist durch Reduzierung
oder Ergänzung von Prämissenmengen – z. B. durch Subtraktion oder Addition
von "Parallelenkonzept" – erreichbar. Sofern man nur zugesteht, dass interkulturelle
Kommunikation auch ein gemeinsames Potential nutzender Lernprozess ist und
sein darf, werden viele kulturell bedingte Unterschiede irrelevant.
Und auch der "Objektanteil" (ein Konzept auch buddhistischer Erkenntnistheorie)
spielt anscheinend prinzipiell eine Gemeinsamkeit begünstigende Rolle, ist
er nur hinreichend komplex und in irgendwie geeigneter Weise begrenzt.
6. So kommt ein sehr schwieriges methodologisches Problem ins Spiel. Rein
logisch gesehen, lässt sich alles verallgemeinern und spezifizieren. Es kommt
also darauf an, auszuführen, warum man etwas für so wichtig hält, dass man
es als Übereinstimmung oder als Unterschied namhaft macht. Ich spreche gern
davon, dass man auch zwei Hühnereier voneinander unterscheiden könne, aber
dass danach kein Hahn krähe. Interessant ist im gegebenen Zusammenhang auch
die bekannte Episode aus Gullivers Reisen, der zufolge ein Krieg über
die Frage ausbrach, ob man ein Ei am spitzen oder stumpfen Ende aufschlagen
solle. Zweifellos ein, wenn auch konstruiertes, Beispiel für irrige Relevanzannahmen.
Fundamentalismen etc. ausgenommen, kenne ich keine kulturspezifischen unterschiedlichen
Strukturierungen der Welt, die ich für gravierend hielte.
7. Was nun etwa die sogenannte Sinneswahrnehmung angeht, so wird m.E. zu
wenig beachtet, wie groß die transkulturellen Übereinstimmungen schon in ästhetischen
Auffassungen sind. Marx hatte Recht, als er feststellte, dass der Mensch
"nach den Gesetzen des Schönen" "formiere". In verschiedenen Arbeiten habe
ich Beispiele für frappierende Übereinstimmungen gegeben. Ich spreche lediglich
einige davon an:
(a) Trotz aller Unterschiedlichkeit sogenannter Schönheitsideale sind wir
uns in unseren ästhetischen Urteilen über menschliche Gesichter und menschliche
Gestalt weitgehend einig.
(b) Es gibt eine Reihe von denkbar verschiedenartigen Kunstwerken, die während
ihrer ganzen Rezeptionsgeschichte und dabei von der überwältigenden Mehrheit
der Menschen, deren Urteile bekannt sind, ästhetisch positiv bewertet wurden.
Entsprechendes gilt für bestimmte Naturphänomene wie etwa den Sternenhimmel,
berühmte Wasserfälle oder Konturen von Sandbergen in der Sahara.
(c) Es gibt unzählige Abhandlungen über künstlerische Regeln, die von der
Überzeugung bestimmt sind, dass solche Regeln existieren und dass sie gekannt
und befolgt werden sollten.
(d) Fast soweit die Geschichte der
Schriftsprache zurückreicht, hat es in irgendeinem Sinn Kunstkritik gegeben.
Ein sehr altes Beispiel ist die um 2000 vor Christus formulierte ägyptische
Lehre des Ptahhotep, die unter anderem von “schöner Rede” spricht und
die einer Art Poetologie folgt.
(e) Es würde keine Lyrik-Übersetzungen, keine Ausstellungen japanischer
Bildender Kunst in Europa (und umgekehrt), keine Aufführungen der Peking-Oper
in London oder eines russischen Balletts in den USA geben, wären wir nicht
überzeugt, dass prinzipiell alle Menschen alle Kunstwerke in irgendwie übereinstimmender
Weise ästhetisch beurteilen können.
(f) Seit je wohl war die Entwicklung der Kunst durch konvergierende Tendenzen
gekennzeichnet. Die Kunstwerke verschiedener Kulturkreise werden sich immer
ähnlicher. Oder sie zeichnen sich durch wachsende und zunehmend akzeptierte
Pluralität aus. Schon in der Steinzeit wurden bestimmte Kunstformen einer
Kultur von anderen Kulturen übernommen. So hat sich der bereits um 11000 vor
Christus (oder noch früher) auftretende Röntgenstil der Jägerkulturen - der
die inneren Organe von Tieren wiedergibt - von Europa nach Asien und von
da aus nach Australien und Amerika verbreitet.
(g) Genauso bemerkenswert wie das Bestehen konvergierender Tendenzen ist
die Existenz verblüffend ähnlicher Kunstformen, die unabhängig voneinander
entstanden sind. Man denke an Beispiele aus der Architektur und Ornamentik.
(h) Die häufigen langen und “heißen” Diskussionen über ästhetische Fragen
wären völlig sinnlos, gründeten sie nicht in der Überzeugung, dass es prinzipiell
möglich sei, sich zu “verständigen”.
8. Zum Verhältnis von spezifischer menschlicher Sprache zu menschlicher
Sprache überhaupt sowie zu grundlegenden Fragen der Logizität und Ethik ebenfalls
nur einige stichwortartige Anmerkungen, da ich mich auch zu diesen Problemen
mehrfach geäußert habe.
(a) So spezifisch eine menschliche Sprache auch sein mag, sie bleibt doch
eine menschliche Sprache. Damit kommen alle für die Hypothese der Existenz
einer Universalen Grammatik formulierten Argumente (aber natürlich auch entsprechende
Gegenargumente) ins Spiel.
(b) Logische Prinzipien bestimmen einzelsprachliche Grammatiken (geben die
Rahmenbedingungen einzelsprachlicher Grammatiken ab) und nicht umgekehrt.
(c) Grammatikalische Kategorien dürfen nicht mit logischen Kategorien identifiziert
werden. So unterscheiden denn auch "westliche" wie indische, chinesische und
japanische Logiktheoretiker explizit zwischen Kategorien wie Genus und Spezies
einerseits und grammatikalischem Subjekt und Prädikat andererseits bzw. zwischen
dharma, fa und hô (Eigenschaft) und dharmin, youfa, uhô
(Eigenschaftsträger) einerseits und grammatikalischen Konzepten andererseits.
(d) Unterschiedliche sprachliche Schlußfiguren (wie Syllogismen), unterschiedliche
Quantoren, der Gebrauch oder Verzicht auf sprachlich explizite Kopulas und
Junktoren (ausgenommen Negationsausdrücke?) sind logisch irrelevant.
(e) In der Diskussion der Frage nach der Allgemeingültigkeit logischer Prinzipien
ist zwischen (1) gewissermaßen metalogischen Gesetzen - nämlich Gesetzen,
die selbst in die Formulierung einzelner Theorien der Logik eingehen -, (2)
in einzelnen Theorien der Logik formulierten Prinzipien und (3) impliziten
und expliziten Anwendungen logischer Prinzipien zu unterscheiden. In einzelnen
Theorien der Logik formulierte Prinzipien sind dabei oft irrelevant. Außerdem
sind sogenannte materiale Logiken - unmittelbare oder mittelbare Theorien
inhaltlich bestimmter Strukturen - außer Acht zu lassen.
(f) Die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen ist unabhängig von einzelsprachlicher
Grammatik und selbst unabhängig davon, ob es in einer Sprache ein eigenes
Wort für "Sollen" gibt. Jeder Mensch, der – wie im einzelnen auch immer –
die Meinung äußert, dass dies oder jenes besser unterlassen worden wäre oder
dass dies und nicht jenes zu tun sei, artikuliert eine solche Unterscheidung.
Anders gesagt, braucht man kein eigenes Wort für "sollen", um auszudrücken,
dass eine bestimmte Handlung vollzogen werden oder unterlassen werden sollte
oder dass sie hätte vollzogen werden sollen. Mittlerweile hat sich übrigens
auch im Deutschen das normative Präsens eingebürgert. Zeitungsanzeigen, mit
denen nach Arbeitskräften gesucht wird, enthalten immer häufiger Formulierungen
wie "NN beherrscht das Textverarbeitsungssystem T". Gemeint ist natürlich,
dass NN dies System beherrschen sollte. Und kein kompetenter Sprecher
dürfte einen solchen Satz anders verstehen. Wenn es also im klassischen Chinesisch
hieß oder heißt "Der Beamte steht früh auf", so war und ist klar, dass der
ideale Beamte früh aufstehen sollte. Die voluminöse sinologische Literatur
über die angebliche "Einheit" von Sein und Sollen in der traditionellen chinesischen
Kultur oder über die mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft, Differenzen zwischen
Sein und Sollen sehen zu wollen, bleibt eine akademische Groteske.
(g) Universale moralische Prinzipien wie die Goldene Regel oder das Verbot
zu morden sind keine Funktionen einzelsprachlicher Besonderheiten.
(h) Ich vermag auch nicht zu erkennen, wie einzelsprachliche Spezifika –
als solche – die allltagsrelevanten allgemeinen Kausalitätsvorstellungen prägen
könnten. Magische, religiöse und ähnlich "übernatürliche" Kausalitätsvorstellungen
sind kein (primär) sprachliches Spezifikum.
Vielleicht läßt sich die Leitfrage wie folgt reformulieren:
Wie verschieden sind verschiedene Umwelten und insbesondere kulturelle Kontexte
überhaupt? Welche Unterschiede sind dabei überhaupt relevant? Und in welcher
Hinsicht und warum? Wie spezifisch sind sie? Sind im Zuge der Entwicklung
kulturell bedingter Wahrnehmung entstandene Unterschiede irreversibel (wie
etwa der Lautverlust)? Und falls nicht, wie relevant ist das Moment ihrer
prinzipiellen Reversibilität? Können kulturell – und vor allem sprachlich
– bedingte spezifische Imputs so unterschiedlich sein, dass sie als die Ausgangsbedingungen
gegebenen subjektiven, objektiven und in allgemeinen Subjekt-Objekt-Relationen
bestehenden Übereinstimmungen eliminieren oder soweit reduzieren, dass
diese irrelevant oder insignifikant werden?
Treten gravierende kommunikative Probleme nicht wirklich erst da auf, wo
eine Argumentationslage gleichermaßen begründete divergierende Entscheidungen
zulässt – bei Dilemmata etwa – oder wo Beteiligte stichhaltige Argumente nicht
ernst nehmen oder ernst nehmen können? Letzteres aber ist, wie gesagt, alltäglich.
Selbst die Weigerung, ein Argument überhaupt zur Kenntnis zu nehmen – ja,
auch nur den Versuch zu machen, ein womöglich unwillkommenes Argument als
solches zu identifizieren – und einem als gültig erkannten Argument nachzugeben,
dürfte, wie ebenfalls angesprochen, fast allen aus eigener Erfahrung vertraut
sein.
Literatur
Ames, Roger, and David Hall, The Democracy of the Dead: Dewey, Confucius,
and the Hope for Democracy in China, Chicago, Lasalle: Open Court 1998
Graham, Angus (Übers.), Chuang-tzu [Zhuangzi]: The Seven Inner Chapters
and other Writings from the Book "Chuang-tzu", London: George Allen &
Unwin 1981
Paul, Gregor, Aspects of Confucianism, Frankfurt a.M., New York: Lang 1990
Paul, Gregor, Der Mythos von der modernen Kunst, Wiesbaden: Steiner 1985
Paul, Gregor, Mythos, Philosophie und Rationalität, Frankfurt a.M.: Lang
1988
Paul, Gregor, Philosophie in Japan, München: iudicium 1993
Paul, Gregor, Argumente für die Universalität der Logik [...]. Hôrin: Vergleichende
Studien zur japanischen Kultur 1, München: iudicium 1994, S. 57-86
Paul, Gregor, Tradition und Norm: Ein Beitrag zur Frage nach der Universalität
moralischer Werte. Hôrin: Vergleichende Studien zur japanischen Kultur 4,
1997, S.13-47
Paul, Gregor, Kulturelle Identität: ein gefährliches Phänomen? Interkulturelle
Philosophie und Phänomenologie in Japan, hg. von M. Lazarin, T. Ogawa
und G. Rappe, München: iudicium, S. 113-138
Paul, Gregor, Probleme, Ziele und Relevanz einer Theorie universaler Logik.
Unter besonderer Berücksichtigung sinologischer Interessen. minima sinica
1/1998, S. 40-69
Paul, Gregor, Kausalität. Eine Problemskizze. Hôrin 6/1999, S. 11-36