CHINA-JOURNAL 



 Eine Veröffentlichung der Deutschen China-Gesellschaft 
德中协会

Hg. und gestaltet von Gregor Paul



Ausgabe 1
2002-2004



Griesser, Ute,
ThangkasRollbilder des tibetischen Buddhismus. Kulturelle Bedeutung und Möglichkeiten der Konservierung



Paul, Gregor, Traditionelle Kultur, nationales Wirtschaftssystem und internationales Geschäft – Anmerkungen zum deutsch-chinesischen Mit- und Gegeneinander

Runge, Wolfgang, Kooperation im
Wandel:

30 Jahre diplomatische Beziehungen
Bundesrepublik Deutschland – Volksrepublik China


 Woesler, Martin, Brief aus Peking. 30 Jahr-Feier deutsch-chinesische diplomatische Beziehungen 1972-2002



Kooperation im Wandel
30 Jahre diplomatische Beziehungen
Bundesrepublik Deutschland - Volksrepublik China


Wolfgang Runge

Text  des Vortrags, den Dr. Wolfgang Runge, Generalkonsul a. D.,  am 17. Oktober 2002 vor der Deutschen China-Gesellschaft im Museum für Ostasiatische Kunst in Köln gehalten hat. 

 

Meine Damen und Herren,

Wie wie wir alle wissen, gehören runde Jubiläen zum gängigen Ritual auswärtiger Beziehungen. In China werden sie - wie alle Rituale - sehr ernst genommen.


Aber wenn Deutschland und China in diesem Oktober in Beijing den 30. Jahrestag ihrer diplomatischen Beziehungen mit der größten deutschen Kultur- und Wirtschaftspräsentation gefeiert haben, die bisher in China stattfand, dann ist das weit mehr als  nur ein Ritual. Es besagt auch einiges über den gegenwärtigen Zustand dieser Beziehungen, auch über die Bedeutung, die beide Länder einander beimessen. Die deutschen Veranstaltungen übertrafen bei weitem die anderer Staaten, die in diesem Jahr das gleiche Jubiläum begehen.

Der krönende Abschluss des deutsch–chinesischen Festivals war bewusst auf den 11. Oktober gelegt worden. Am gleichen Tage hatten vor  30 Jahren  Außenminister Walter Scheel und sein chinesischer Kollege Chi Pengfei in der Großen Halle des Volkes in Beijing mit einer kurzen Gemeinsamen Erklärung die Aufnahme der Beziehungen bestätigt. Damit waren beide Staaten nach über 20 Jahren nur inoffizieller Wirtschaftskontakte wieder zur diplomatischen Normalität zurückgekehrt.

Runde Jubiläen wie dieses werden nicht um ihrer selbst willen gefeiert. Man erwartet von ihnen Impulse für die Zukunft. Aber sie bieten zugleich einen Anlass zu kritischer Rückschau und  Bestandsaufnahme. Darum soll es im Folgenden gehen.


I

Die staatlichen Beziehungen zwischen China und Deutschland lassen sich, wenn wir die deutschen Einzelstaaten wie Preußen und die Hansestädte miteinbeziehen, bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Sie sind sehr unbeständig verlaufen. Sie haben Phasen gegenseitiger Distanz, intensiver Zusammenarbeit, auch des Kriegszustandes erlebt, tiefe Brüche und hoffnungsvolle Neuanfänge.

Auch der Neuanfang von 1972 gehört in diese Entwicklungslinie. Um seine besonderen Umstände zu verstehen, müssen wir die beiden Jahrzehnte zuvor in unseren Rückblick einbeziehen. Diese Phase bildet gleichsam das erste Kapitel deutsch-chinesischer  Geschichte nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges.


Am Beginn stand die Wiederaufnahme der Handelskontakte. Bereits Anfang der 50er Jahre hatten viele der früher im Chinageschäft tätigen deutschen Firmen ihre alten Verbindungen neu belebt. Das geschah freilich in den engen Grenzen, die einmal durch den Wiederaufbau der chinesischen Wirtschaft nach sowjetischem  Vorbild gezogen waren, zum anderen durch das von den USA erzwungene China-Embargo während des Koreakrieges.
Gleichwohl: schon Mitte der 60er Jahre -  trotz der Turbulenzen der Kulturrevolution - war die deutsche Wirtschaft zum wichtigsten europäischen Lieferanten von Stahlerzeugnissen, Maschinen und Anlagen nach China  aufgerückt, ebenso zum wichtigsten Abnehmer chinesischer Agrarprodukte und Halbfabrikate (andere Ausfuhrgüter konnte die Volksrepublik damals noch nicht anbieten). Insgesamt war das Handelsvolumen  (1972: knapp  900 Mio DM)  selbst nach damaligen Maßstäben bescheiden, vergleichbar dem Warenaustausch mit kleineren Ostblockländern wie Bulgarien. Aber es genügte, um der Bundesrepublik beim Chinageschäft im europäischen Vergleich die Rolle eines Spitzenreiters zuzuweisen.

All dies vollzog sich ohne den Flankenschutz durch formale staatliche Beziehungen. Anders als im kommunistisch beherrschten Osteuropa, wo die Bundesrepublik seit 1961 Schritt für Schritt zunächst mit Handelsvertretungen wieder präsent wurde, blieben offizielle Kontakte mit Vertretern „Rotchinas“ (wie man damals sagte) im Halbdunkel. Manche Begegnungen muten heute an wie konspirative Treffen: in Hinterzimmern, am Rande internationaler Konferenzen oder während der Kanton-Messe. Die technische Abwicklung des Warenaustausches besorgte auf deutscher Seite der „Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft“  beim BDI, hier in Köln. Er arbeitete in enger Abstimmung mit den Bundesressorts, nach außen firmierte er jedoch als Privatinstitution. Otto Wolff von Amerongen, sein langjähriger Vorsitzender, führte Gespräche in Beijing lange bevor Bonner Politiker dorthin eingeladen wurden.

Weshalb diese Zurückhaltung? Mit Belastungen aus der Vergangenheit hatte sie wenig zu tun. Innerhalb der Führung des kommunistischen China war nicht vergessen, dass Deutschland bereits nach dem Ersten Weltkrieg auf alle Konzessionen förmlich verzichtet und  als erster westlicher Staat intensive Beziehungen auf der Basis strikter Gleichberechtigung unterhalten hatte. Nach Ausbruch des Bürgerkrieges wurden beide Kriegsparteien von deutschen Experten beraten. Zwar war Chiang Kaishek 1941 an der Seite der USA in den Zweiten Weltkrieg  eingetreten. Aber gekämpft hatten die Chinesen nur gegen die japanischen Okkupationsarmeen.

Die Gründe lagen anderswo. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs waren Deutschland und China selbst zu  Brennpunkten der Weltpolitik geworden. Die Trennungslinien des Ost-West-Konflikts verliefen quer durch beide Länder hindurch. Die Ergebnisse sind bekannt: jeweils zwei Teilstaaten, die seit ihrer Entstehung  im Jahr 1949 in zwei entgegengesetzten Lagern  standen, jeder mit dem Anspruch, der einzig rechtmäßige Staat zu sein. “One China“, der in diese Formel gefasste - und rigoros durchgesetzte - Alleinvertretungsanspruch der kommunistischen Führung in Beijing hat übrigens den Vordenkern der Bonner Hallstein-Doktrin als Modell gedient.

Mit der Entscheidung Mao Zedongs,  China an die Sowjetunion zu binden  (er nannte das „die  Neigung nach der einen Seite“) wurde die  DDR zum offiziellen deutschen Partner der VR China. Und dabei blieb es auch, als sich die SED ab 1960 im Streit der beiden kommunistischen Bruderstaaten auf die Seite Moskaus stellte. Die bitteren Polemiken zwischen den Parteiorganen in Beijing und Ostberlin haben zwar niemals zum Abbruch der staatlichen Beziehungen geführt. Aber das eisige Klima, das sie erzeugten, trug dazu bei, die staatlichen Beziehungen über Jahrzehnte hinaus auf niedrigem Niveau zu halten.

Nach der Logik des Kalten Krieges hätte es für die Bundesrepublik nahegelegen, die Festlegung Mao Zedongs auf die DDR mit der Anerkennung Chiang Kaisheks zu beantworten. Tatsächlich hat es in Bonn an Befürwortern eines solchen Schrittes nicht gefehlt (darunter zeitweilig Franz Josef.Strauß). Auch Taiwan und die USA sind mit diesem Anliegen öfter im Auswärtigen Amt vorstellig geworden. Aber jedes Mal stießen solche Initiativen auf höfliche Ablehnung. Maßgebend hierfür war nicht zuletzt die Überzeugung, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis die VR China ihre internationale Anerkennung durchgesetzt haben würde, was vor allem bedeutete, den chinesischen UNO-Sitz von Taiwan zu übernehmen.

Wann dieser Zeitpunkt kommen würde, war freilich noch Mitte der 60er Jahre völlig ungewiss. Solange die Konfrontation der USA mit der VR China andauerte, musste jede Bundesregierung sich zwischen beiden mit größter Vorsicht bewegen. Distanz gegenüber Taiwan und informelle Handelskontakte mit dem kommunistischen China - das war das Äußerste, was man dem wichtigsten Verbündeten glaubte zumuten zu können. Jeder Schritt über diese Linie hinaus barg das Risiko von Konflikten mit Washington, die Bonn damals zu vermeiden suchte. Nicht zuletzt aus diesem Grunde scheiterten 1964 geheime Gespräche deutscher und chinesischer Diplomaten in Bern, obwohl sie nur Möglichkeiten erkunden sollten, den Warenaustausch durch ein staatliches Abkommen zu regeln.

Neue Perspektiven öffneten sich, als ab 1966 mit der Neuen Ostpolitik der Großen Koalition die Hallstein-Doktrin schrittweise aufgegeben wurde. Mit der spektakulären Wende der amerikanischen Chinapolitik, die Präsident Nixon 1968 einleitete, entfielen zudem die amerikanischen Empfindlichkeiten.

Gleichwohl blieben Bonn und Beijing weiterhin auf Distanz. Dies ergab sich aus den Prioritäten der neuen deutschen Ostpolitik, die eindeutig  der Sowjetunion und ihrem osteuropäischen Vorfeld galten. Hinzu kam, dass sich ab 1966 der chinesisch-sowjetische Konflikt erheblich verschärft hatte - bis hin zu bewaffneten Zusammenstößen. Jede Geste in Richtung Beijing schürte Einkreisungsängste in Moskau. Ob berechtigt oder nicht, sie mussten in Rechnung gestellt werden. Denn das strategische Ziel der Ostpolitik, nämlich Entspannung in Deutschland und Europa durch Gewaltverzicht, war nur mit der Sowjetunion zu erreichen, nicht gegen sie. Kritikern, die darauf drängten, gegen Moskau die „chinesische Karte“ ins Spiel zu bringen, hielt vor allem Willy Brandt wiederholt entgegen, dass die Sowjetunion schon aus Gründen der Geographie nicht einfach gegen China ausgetauscht werden könne. Mit Gesprächen zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen wartete Brandt deshalb, bis er sicher sein konnte, dass ein solcher Schritt in Moskau hingenommen werden würde. Dieser Augenblick war gekommen, als  der deutsch-sowjetische Vertrag Mitte 1972 die parlamentarischen Hürden genommen hatte.

Auch die chinesische Führung hatte - seit dem Ende ihrer Selbstisolierung infolge der Kulturrevolution (1969) -  mit der Aufnahme von Kontakten nach Bonn keine besondere Eile gezeigt. Der Bonner Ostpolitik war sie mit größtem Misstrauen begegnet. Fixiert auf ihren „Hauptfeind“ Sowjetunion hatte sie zunächst versucht,  die DDR auf ihre Seite zu ziehen. Sie tat es, indem sie sich als der zuverlässigere Verbündete empfahl und der sowjetischen Führung unterstellte, sie wolle sich mit Bonn zu Lasten Ostberlins arrangieren. Doch die DDR war viel zu abhängig von der Sowjetunion, als dass sie sich  einen solchen Seitenwechsel hätte leisten können. Bei Mao Zedong - nur er selbst konnte solche Entscheidungen treffen - scheint sich  bis Mitte 1972 daher die Einsicht durchgesetzt zu haben, dass es unter diesen Umständen vorteilhafter war, zu beiden deutschen Staaten reguläre Beziehungen herzustellen.

Damit waren die Weichen gestellt. Über die Modalitäten gelang die Einigung nach nur fünfwöchigen Verhandlungen - und zwar mit einem Ergebnis, das die Hauptanliegen beider Seiten voll berücksichtigte, nämlich das chinesische „One China“-Prinzip und das deutsche Beharren auf der Einbeziehung Westberlins. In der Praxis hat es mit beiden Punkten niemals Schwierigkeiten gegeben. Mit der Nicht-Anerkennung Taiwans hatte die Bundesrepublik die wichtigste Vorleistung längst erbracht.

Andere westliche Staaten (z.B. Italien, Kanada, auch Japan) hatten den chinesischen Schauplatz bereits früher betreten. Die Bundesregierung hat deshalb manche Kritik erfahren, nicht nur von der CDU/CSU-Opposition. Auch die im Chinageschäft engagierte Wirtschaft, vertreten durch den Ostasiatischen Verein, drängte. Sie fürchtete, ohne eine Formalisierung der Beziehungen gegenüber Konkurrenten mit staatlichem Flankenschutz in Hintertreffen zu geraten. Die Rolle eines Vorreiters zu spielen, hätte jedoch nicht den Prioritäten der Bundesrepublik entsprochen, auch nicht ihrem Selbstverständnis.


II

Selten hat eine Nachricht aus China in der deutschen Öffentlichkeit  ein so positives Echo gefunden wie die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen im Oktober 1972.  Die Zustimmung  reichte quer durch alle politischen Lager  und gesellschaftlichen Gruppen, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen. Noch war der  Mythos Maos nicht entzaubert, noch gab es keine Menschenrechtsdiskussion.

Tatsächlich eröffneten sich mit der Einrichtung diplomatischer Vertretungen viele Möglichkeiten, die bis dahin versperrt waren. Ein Handelsvertrag - den Entwurf dazu hatte Scheel schon nach Beijing mitgebracht  - gewährte China die Meistbegünstigung. Bereits 1973 überstieg das Volumen des Außenhandels eine Mrd. DM. Die ersten 10 chinesischen Stipendiaten trafen ein.

Gleichwohl gab es in den 70er Jahren für substantielle Beziehungen nur begrenzten Spielraum. Für die Herstellung des diplomatischen Kontaktes zu Bonn waren in Beijing außenpolitische Überlegungen bestimmend gewesen, nicht der Wunsch nach wirtschaftlicher oder gar kultureller Zusammenarbeit. China befand sich in der Endphase der Kulturrevolution, die von Machtkämpfen innerhalb der Parteiführung geprägt war. Noch verfügte das Land erst über ein sehr beschränktes Exportangebot. Zudem erlaubte das Dogma von der wirtschaftlichen Entwicklung aus eigener Kraft weder ausländische Beteiligungen noch langfristige Kredite. Erst recht waren kulturelle Einflüsse aus dem Westen ideologisch unerwünscht.

Auch der politische Meinungsaustausch ergab, dass beide Seiten in der Beurteilung der Weltlage weit auseinander lagen. Die chinesische Führung war noch immer fixiert auf die sowjetische Bedrohung. Mao selbst, aber auch sein Nachfolger Deng Xiaoping, versuchten ihren deutschen Gesprächspartnern immer wieder klarzumachen, dass sie einen Krieg, ausgelöst von der Sowjetunion, für unvermeidlich hielten. Nach ihrer Auffassung konnte diese Gefahr nicht durch Entspannung, sondern allein durch Schaffung militärischer und politischer Gegengewichte - also durch klassische Macht- und Gleichgewichtspolitik -  neutralisiert werden. Folglich suchte die chinesische Führung in Bonn Sympathien  auf Kosten Moskaus zu gewinnen. Ihr demonstratives Bekenntnis zur Einheit der Deutschen Nation und zur europäischen Einigung ist vor allem aus dieser Interessenlage heraus zu verstehen. Überdies: Beides kostete China nichts.

Aus chinesischer Sicht hatten die Meinungsunterschiede nicht zuletzt mit den handelnden Personen  in Bonn zu tun. In Beijing war bekannt, dass die CDU/CSU-Opposition seit1969 ständig darauf gedrängt hatte, durch ein Zusammenspiel mit China Druck auf die Sowjetunion auszuüben. Mit den deutschen Oppositionsparteien glaubte die chinesische Führung ein größeres Maß an außenpolitischer Übereinstimmung zu haben als mit der sozialliberalen Bundesregierung. Als erster Bonner Politiker - noch vor der Reise von Scheel - hatte der frühere Außenminister Gerhard Schröder im Sommer 1972 eine  Einladung nach China erhalten. Die lautstarke Kritik von Franz Josef Strauß an der Sowjetunion - und an der Bonner Außenpolitik - wurde in Beijing gern gehört. Nicht zufällig war Strauß der erste Bonner Besucher, dem die Ehre einer Audienz bei dem - damals schon schwerkranken - Mao zuteil wurde.


III


Erst der Sieg der Reformer um Deng Xiaoping im Dezember 1978 eröffnete neue Perspektiven. Denn um den schrittweisen Umbau des bisherigen Wirtschaftssystems durchzusetzen war eine „Öffnung nach außen“, d.h. verstärkte Zusammenarbeit mit westlichen Industrieländern unerlässlich. Nur von dort waren Auslandskapital, Technologietransfer und zusätzliche Absatzmärkte zu erwarten. Dies aber setzte ein friedliches internationales Umfeld voraus, d.h. ein erträgliches Verhältnis zu beiden Supermächten. Mit ersten Signalen der Versöhnung in Richtung Moskau wurde die alte These von der Unvermeidbarkeit des Krieges unauffällig beiseite gelegt. Weitere Schritte waren der Beitritt zur Weltbank und zum Internationalen Währungsfonds, sowie der Aufnahmeantrag beim Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen, dem Vorläufer der heutigen WTO. All dies war weit mehr als ein taktischer Kurswechsel zur Image-Verbesserung. Hier lag eine grundlegende Neuorientierung vor.

Damit verschob sich der Schwerpunkt auch der deutsch-chinesischen Beziehungen in die Bereiche Wirtschaft und Wissenschaft - und diese Zusammenarbeit erhielt einen bisher nicht gekannten Auftrieb. Es gab jetzt auch weniger außenpolitische Reibungspunkte, nachdem die  chinesische Führung selbst auf Entspannung setzte. Zugleich sah man es in Beijing vielleicht nicht ungern, dass - bei allem Respekt, den Helmut Schmidt genossen hatte -1982 mit Helmut Kohl ein „alter Freund“ aus Oppositionstagen ins Kanzleramt eingezogen war. Kohl verstand  sich bei seinen zahlreichen Besuchen in China sehr bewusst als  „Türöffner“  für die deutsche Wirtschaft, erkennbar daran, dass er sich stets von hochrangigen Unternehmerdelegationen begleiten ließ. Sein Nachfolger hat diese Tradition fortgesetzt. Das Netz persönlicher Bekanntschaften, das so entstand, ist bis heute zu einem wesentlichen Merkmal der beiderseitigen Beziehungen geworden.

In fast allen Bereichen zeigte der Trend nach oben: Von 1979 bis 1989 vervierfachte sich das Volumen des Außenhandels (von 2,7 auf 10,4 Mrd. DM). Mit VW etablierte sich 1984 erstmals  ein deutsches Großunternehmen  in der Volksrepublik als Auslandsinvestor. Ein Jahr später lief der erste in Shanghai montierte Santana vom Band. 1990 gab es bereits 250 deutsch-chinesische  Gemeinschaftsunternehmen.

In engem Zusammenhang mit ihren Wirtschaftsinteressen nahmen  beide Seiten nun auch die wissenschaftliche Kooperation auf - mit Schwerpunkt bei Naturwissenschaften und Technologie. 1982 wurde die VR China auch in den Empfängerkreis deutscher Entwicklungshilfe einbezogen.

Chinas enormer Nachholbedarf nach der Kulturrevolution beflügelte den akademischen Austausch, vor allem in Bereichen der praxisorientierten Forschung und Ausbildung. 1979 trafen die ersten 32 chinesischen Humboldt-Stipendiaten an deutschen Instituten ein. 1987 entsandte die Volksrepublik bereits 2000 Wissenschaftler, Stipendiaten und Praktikanten zu Studienaufenthalten.

Auf Barrieren stieß der Kulturaustausch, zumal dort, wo die chinesische Kommunistische Partei ideologische Unterwanderung fürchtete: bei Geistes- und Sozialwissenschaften oder in sensiblen Bereichen wie Literatur und Kunst. Hier wurden die Spielräume nur schrittweise größer. Die Aufführung von Brechts „Galilei“ 1979  in Beijing - des ersten ausländischen Bühnenwerkes seit Ende der Kulturrevolution – war ein kleines Hoffnungszeichen, ebenso die ersten deutsche Buch- und Kunstausstellungen im gleichen Jahr. Die Eröffnung eines Goethe-Instituts in Beijing (1988), des ersten Kulturinstitutes, das ein westliches Land errichten konnte, erforderte jedoch mehrjährige mühsame Verhandlungen. Es durfte zunächst auch nur Sprachunterricht erteilen.

Insgesamt boten die deutsch-chinesischen Beziehungen am Ende der 80er Jahre ein Bild geschäftiger Normalität: eine fast unübersehbare Vielfalt von Kontakten, zunehmend auch zwischen Bundesländern und chinesischen Provinzen oder zwischen Großstädten wie Hamburg und Shanghai, mit zahlreichen Alltagsproblemen, aber ohne ernsthafte Konflikte. Dieses Bild konnte nur deshalb entstehen, weil ein Aspekt gleichsam ausgeblendet war: die fundamentalen Unterschiede zwischen den politischen Systemen. Sowenig sie geleugnet wurden - im bilateralen Verhältnis spielten sie damals fast keine Rolle. Anders als gegenüber Osteuropa blieb es im Falle China nichtstaatlichen Organisationen wie Amnesty International überlassen, Menschenrechtsverletzungen wie die Verfolgung von Dissidenten anzuprangern. Repressionen gegen nationale oder religiöse Minderheiten in China beschäftigten den Bundestag nur ausnahmsweise: die Tibet-Resolution  von 1987 war die erste ihrer Art. Fragen nach der Zukunft des politischen Systems wurden von der Bundesregierung mit dem Hinweis auf die Unumkehrbarkeit des Modernisierungsprozesses beantwortet. Hinter dieser Formel verbarg sich die diffuse Erwartung, die Wirtschaftsreformen würden unausweichlich politische Reformen nach sich ziehen.


IV


Mit dem brutalen Einsatz der Volksbefreiungsarmee gegen die studentische Protestbewegung am 4. Juni 1989 und der anschließenden Verfolgung ihrer Wortführer wurden solche Hoffnungen abrupt zerstört. Die Folgen für das Ansehen der chinesischen Führung im westlichen Ausland sind bekannt. Fast auf einen Schlag ging ein Großteil des Vertrauenskapitals verloren, das Deng Xiaoping in einem Jahrzehnt angesammelt hatte.

Damit veränderte sich das China-Bild der deutschen Öffentlichkeit tiefgreifend. Die - mitunter kritiklose - Bewunderung  für Wirtschaftsdynamik und Reformtempo wurde überlagert von älteren Klischees von chinesischer Grausamkeit und asiatischem Despotismus. Diese veränderte Wahrnehmung ging in den Medien und den politischen Parteien einher mit einer gesteigerten Sensibilität für Menschenrechtsfragen. Stärker als vor 1989 wurde deshalb die deutsche China-Politik vom Bundestag mitbestimmt - übrigens durchweg in einem breiten  Konsens.

Bereits wenige Tage nach dem Massaker reagierten die USA, Japan und die EG-Staaten mit Sanktionen. Ministerbesuche wurden abgesagt, neue Entwicklungskredite eingefroren, Bürgschaften für Ausfuhren gesperrt. Die deutsch-chinesischen Beziehungen hatten einen seit 1972 nicht gekannten Tiefstand erreicht.

Verstärkt wurde die Isolierung Chinas durch den fast zeitgleichen Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaftssysteme in Mittel- und Osteuropa. Die SED-Führung, die fast als einzige den chinesischen Waffeneinsatz unterstützt hatte, war schon bald nicht mehr im Amt: aus Sicht von Deng Xiaoping, weil sie kampflos aufgegeben und damit die Vereinnahmung der DDR durch die „kapitalistische“ Bundesrepublik selbst eingeleitet hatte. Die deutsche Wiedervereinigung wurde in Beijing deshalb zunächst mit deutlicher Reserve aufgenommen. So lautstark dort die Einheit der deutschen Nation in den 70er Jahren beschworen worden war - so wie sie 1990 zustande kam, hatte man sie gerade nicht gewünscht.

Deng Xiaoping hatte freilich von vornherein damit gerechnet, dass die Sanktionen nicht von langer Dauer sein konnten. Er setzte darauf, dass die Anziehungskraft Chinas - als Produktionsstandort und als Absatzmarkt  -  letztlich größer sein würde als die Empörung über das Blutvergießen auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Damit sollte er recht behalten.

Es war der von Saddam Hussein entfesselte Golfkonflikt, der China  bereits Ende 1990 die Rückkehr in die internationale Politik erleichterte. Die chinesische Stimmenthaltung im Sicherheitsrat, ohne die das Mandat der Vereinten Nationen für einen Militäreinsatz gegen den Irak nicht möglich gewesen wäre, wurde von den USA und ihren Verbündeten mit einer Lockerung der China-Sanktionen honoriert.

Dies hatte Signalwirkung. Bereits 1991 zeichnete sich überall die Rückkehr zum „ business as usual“ ab. Ein Land von der Größe Chinas, dazu Ständiges Mitglied des Sicherheitsrats, konnte weder auf längere Zeit isoliert, noch durch Druck von außen zur Respektierung der Menschenrechte gezwungen werden.

Wiederholen sollte sich auch eine schon früher am Beispiel der Sowjetunion, Südafrikas oder des Iran gemachte Erfahrung: dass  nämlich die Solidarität bei der Durchführung von Sanktionen nach der ersten Empörung rasch nachlässt, sowohl international als auch im nationalen Rahmen. Bei den Spitzenorganisationen der deutschen Wirtschaft waren die Sanktionsbeschlüsse ohnehin mit Zurückhaltung aufgenommen worden. Der Ruf nach ihrer Aufhebung - unter Hinweis auf die Aktivitäten der ausländischen Konkurrenz - ließ nicht lange auf sich warten.

Es überrascht deshalb nicht, dass die deutschen Ausfuhren in die VR China nur 1989 und in den beiden folgenden Jahren einen begrenzten Einbruch erlebten. Geplante Investitionen wurden allenfalls aufgeschoben. Nur einen Monat nach den Ereignissen des 4. Juni gab VW bereits seine Entscheidung bekannt, die Produktionsanlagen in Shanghai zu erweitern.

Der wirtschaftliche Aufschwung, den die gesamte asiatische Region vom Beginn der 90er Jahre bis zur Asienkrise 1997/98 erlebte, gab China zusätzliche Trümpfe in die Hand. Denn in einer solchen Phase wollte kein Industrieland seine Marktchancen verpassen. Ausgehend von den an China interessierten Unternehmen setzte sich überall die Einsicht durch, dass an einer noch stärkeren Präsenz im gesamten asiatischen Raum künftig kein Weg mehr vorbeiführen würde. Die  Gründung des Asien-Pazifik-Ausschusses der deutschen Wirtschaft entsprang dieser Einsicht, ebenso die Bemühungen der Bundesregierung und der EU-Kommission in Brüssel, Gesamtkonzepte für eine Asienpolitik zu entwerfen. In allen Konzepten lag der Schwerpunkt eindeutig auf Maßnahmen zur Förderung der Wirtschaftsbeziehungen. Genau unter diesem Vorzeichen standen die Gespräche von Bundeskanzler Kohl Ende 1993 in Beijing, mit denen die Tradition regelmäßiger Besuche der Regierungschefs wieder aufgenommen wurde.


V


War die deutsche China-Politik damit wieder im wesentlichen auf Exportförderung reduziert? Ist Kritik an Menschenrechtsdefiziten in China seither zur reinen Pflichtübung geworden - oder gar zum Mittel  innenpolitischer Profilierung?  Diese Fragen  stellen sich beim Rückblick auf die dritte und jüngste Dekade deutsch-chinesischer Beziehungen. Ich will im letzten Abschnitt meiner Ausführungen eine Antwort versuchen.

Zunächst: Seit dem Fehlschlag der Sanktionen bestimmt ein zentraler Leitgedanke die Chinapolitik aller europäischen Staaten: China durch Angebote zur Zusammenarbeit in die Staatengemeinschaft einzubinden und es auf diesem Wege zur Einhaltung internationaler Normen und Verhaltensregeln zu bewegen. Deshalb hat Deutschland die Aufnahme Chinas in die WTO unterstützt, deshalb ermutigt es China, internationale Konventionen zum Schutz der Menschenrechte oder der Umwelt zu unterzeichnen - und umzusetzen. Deshalb auch die Anregung von Bundeskanzler Schröder, den chinesischen  Regierungschef  zu den jährlichen Gesprächen der acht größten Industrieländer (G 8) hinzuzuziehen. Sachlich ist sie gut begründet, denn China ist inzwischen zur viertgrößten Handelsnation der Welt aufgestiegen.

China geht freilich nur zögernd internationale Verpflichtungen ein, vor allem, wenn es diese nicht selbst mitgestaltet hat. Nur dort arbeitet China mit, wo es Eigeninteressen an der Einhaltung  solcher Verpflichtungen erkennt.

Nirgendwo treffen sich deutsches und chinesisches Eigeninteresse deutlicher als im Bereich der Wirtschaftsbeziehungen. Sie zu fördern ist deshalb nicht Ausdruck von borniertem Pragmatismus, sondern fügt sich in unsere langfristigen Perspektiven ein.

Gerade aus dieser Sicht kann die Entwicklung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in den letzten Jahren als Erfolgsgeschichte gelten. Deutschland ist unter den europäischen Investitionsländern auf den ersten Platz aufgerückt, den bisher traditionell Großbritannien einnahm. Im Außenhandel gehört China inzwischen zu unseren drei wichtigsten außereuropäischen Partnern (Gesamtvolumen 2001: fast 32 Mrd. €), noch mit weitem Abstand nach den USA, aber seit diesem Jahr  erstmals vor Japan. Für die kommenden Jahre wird ein weiteres Wachstum erwartet: als Stichworte seien nur die Großprojekte Transrapid und Olympische Spiele 2008  genannt.

Freilich: aus chinesischer Sicht hält Deutschland keine Spitzenposition. Chinas größte Absatzmärkte sind die USA und die Staaten Ost- und Südostasiens. Von hier kommt auch ein Vielfaches der Investitionen, die von Deutschland nach China fließen. 2001 lag der Anteil der USA an den ausländischen Direktinvestitionen bei 9,5%, der von Deutschland bei 2,6% .

Doch so unbestritten der Vorrang der Wirtschaftsförderung ist, deutsch-chinesische Zusammenarbeit war schon vor 1989 sehr viel mehr. Heute umfasst sie selbst so heikle Themen wie Bekämpfung des Drogenschmuggels oder der illegalen Einwanderung. Ferner: China ist Schwerpunktland und größter Empfänger deutscher Entwicklungshilfe geworden. Die Mittel fließen vor allem in Modellprojekte des Umweltschutzes (wie Aufforstung, Gewässerschutz oder Abfallentsorgung). Diese Einzelvorhaben lassen sich einordnen in die Gesamtkonzepte eines weltweiten Ressourcen-Schutzes, den die Vereinten Nationen seit über einem Jahrzehnt zu einem ihrer großen Themen gemacht haben. Die Bedeutung dieser Aufgabe wird von den Verantwortlichen in China zunehmend begriffen.

China ist in Ostasien der Partner Deutschlands mit dem breitesten Spektrum wissenschaftlicher Zusammenarbeit. Hier gibt es längst keine Einbahnstraße mehr. Erwähnt seien nur die gemeinsamen  Forschungsgruppen der Max-Planck-Gesellschaft, die bilateralen Forschungsvorhaben im Bereich der Lebenswissenschaften oder das Wissenschaftszentrum, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft  in Beijing errichtet hat.

Beim Förderprogramm des DAAD liegt China an der Spitze der Länder Asiens, bei den Stipendien der Humboldt-Stiftung belegt es den weltweit ersten Platz. Insgesamt, d.h. unter Einschluss der Selbstzahler,  waren ca.12.000 Studenten aus China  im Jahr 2001 an deutschen Hochschulen eingeschrieben, mehr als aus jedem anderen Land. Zum Vergleich: in den USA studieren 50.000  junge Chinesen, von denen freilich über zwei Drittel dort bleiben, was ihnen durch ausgedehnte sino-amerikanische Milieus erleichtert wird. Dagegen kehren - nicht zuletzt infolge des deutschen Ausländerrechts - 60 %  der bei uns Studierenden in ihre Heimat zurück. Sie verstärken die schon existierenden Netzwerke, die inzwischen tief in Unternehmen und Institute beider Länder hineinreichen.

Zur Menschenrechtsfrage: Inwieweit ist sie ein zentrales Anliegen deutscher Chinapolitik, wie es im kürzlich veröffentlichten neuen Asienkonzept der Bundesregierung heißt?

Misst man solche Aussagen an der Praxis, so ist festzustellen, dass dieses Thema auch nach der Rückkehr zur „ Normalität“ seit 1993/ 94 wiederholt für Konflikte gesorgt hat - bis heute, auch wenn davon weniger nach außen dringt als früher. Auf den Tagesordnungen deutsch-chinesischer Gespräche hat es einen regelmäßigen - und prominenten - Platz, bis hinauf zu den Staatsoberhäuptern. Das Vorgehen chinesischer Behörden gegen christliche Kirchen, gegen die Falun-Gong-Bewegung oder nationale Minderheiten liefert dafür immer wieder neue Anlässe. Häufig werden konkrete Einzelfälle aufgegriffen, z.B. Listen von Verhafteten mit der Bitte um Freilassung übergeben.

Bemerkenswert ist, dass die chinesische Seite sich einem solchen kritischen Dialog inzwischen nicht mehr verweigert, wie das noch bei den ersten Begegnungen nach 1993 geschehen war. Höchste chinesische Repräsentanten lassen sich auf das Thema ein, wenngleich erkennbar ungern. Darüber hinaus gibt es einen regelmäßigen Menschenrechtsdialog zwischen Beamten der Außenministerien; hier kommen selbst so brisante Fragen zur Sprache wie die Gewährung kultureller Autonomie für Tibet.

Was immer solche Gespräche konkret bewirken, allein die Tatsache, dass sie stattfinden, erzeugt Druck. Natürlich weiß auch die chinesische Seite solche Gelegenheiten taktisch zu nutzen, indem sie danach verlauten lässt, ihre deutschen Gesprächspartner hätten Verbesserungen der Situation ausdrücklich anerkannt.

Schwerer als hinter verschlossenen Türen ertragen chinesische Regierungsvertreter noch immer öffentliche Kritik, etwa im Bundestag oder vor einem internationalen Forum wie der Menschenrechts-Kommission der Vereinten Nationen in Genf. Dort hat Außenminister Fischer auch dieses Jahr wieder deutliche Worte gefunden. Der Einwand, dass mit solcher Kritik, so sachlich begründet sie sicherlich ist, auch  Erwartungen aus Parteien und Medien in Deutschland bedient werden sollen, ist nicht ganz unberechtigt. Zudem bleibt die Frage, ob damit auf chinesischer Seite nicht eher Trotzreaktionen provoziert werden. Kein Staat sieht sich gern am Genfer Pranger. Gewiss lassen sich konkrete Verbesserungen der Menschenrechtslage allein dadurch nicht erzwingen.

Gerade aus dieser Einsicht  hat in den letzten Jahren ein kooperativer Ansatz zunehmend an Boden gewonnen. Ich meine den sog. Rechtsstaats-Dialog, den China mit Deutschland, aber auch mit den USA vereinbart hat. Er knüpft an beim chinesischen Eigeninteresse an größerer Rechtssicherheit, d.h. am Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen. Hierdurch soll auch ein verbesserter Menschenrechts-Schutz erreicht werden. Die derzeit 18 deutsch-chinesischen Modellprojekte setzen bei ganz konkreten Problemen an, etwa beim Rechtsschutz des Einzelnen, der Verbesserung der Richterausbildung oder der Reform des Strafvollzugs. Niemand sollte sich Illusionen über die Größe der damit verbundenen Aufgaben machen, nicht zuletzt deshalb, weil Recht in China bisher nicht als Mittel zum Schutz des Einzelnen verstanden wurde. Dennoch sollte man die Versicherung von Ministerpräsident Zhu Rongji, China sei bereit, auf diesem Gebiet von Deutschland zu lernen, nicht einfach als Rhetorik oder taktischen Schachzug abtun.

Doch rechtsstaatliche Grundsätze dürften allenfalls schrittweise in die chinesische Verwaltung und Justiz Eingang finden. Bis dahin werden die Menschenrechtsdefizite ein Reizthema im Verhältnis Chinas zur westlichen Staatengemeinschaft bleiben, und damit auch zu Deutschland.

Im Vergleich dazu spielt der klassische Kernbereich diplomatischer Beziehungen, die Fragen von Frieden und Sicherheit, im deutsch-chinesischen Kontext keine bedeutende Rolle. Gewiss, einen intensiven Dialog über alle Fragen von internationaler Bedeutung hat es immer gegeben. Aber zu direktem Zusammenwirken bei internationalen Konflikten ist es bisher nur ausnahmsweise ( erstmals in der Kosovo-Krise 1999) gekommen. Das mag sich in Zukunft ändern. Die Bereitschaft dazu könnte in Beijing nach dem deutschen Nein zu den Angriffsabsichten der USA gegen Irak gewachsen sein.

Die Taiwan-Frage, die immer wieder für Kontroversen zwischen China und den USA sorgt, birgt im deutsch-chinesischen Verhältnis nur ein begrenztes Konfliktpotential. Zu den Eckpunkten deutscher - und europäischer - Chinapolitik gehört, dass über die Zukunft Taiwans nur mit friedlichen Mitteln entschieden werden darf. Bekanntlich hat die chinesische Führung die Anwendung militärischer Gewalt niemals gänzlich ausgeschlossen. Aber solange sie nicht dazu greift, bleibt dies ein Streit um Prinzipien.

Unterhalb der Prinzipien ist auf beiden Seiten pragmatisch verfahren worden. So hat China unsere wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte mit Taiwan, die seit 1989 noch erheblich ausgebaut worden sind, durchweg toleriert, auch die Errichtung eines  halboffiziellen deutschen Vertretungsbüros mit konsulatsähnlichen  Funktionen. Eine feine Linie hat die Bundesregierung freilich nie überschritten: Rüstungslieferungen an die taiwanesischen Streitkräfte hat sie stets abgelehnt.


VI


Nach einem schwierigen Start vor 30 Jahren - und einem wechselvollen Verlauf - haben die deutsch-chinesischen Beziehungen eine Dynamik entwickelt, die mit dem Verhältnis zu keinem anderen Staat in Asien vergleichbar ist. Dissonanzen,  sogar erhebliche Kontroversen, konnten bei so ungleichen Partnern nicht ausbleiben. Hinter dem offiziellen Bild bemühter Harmonie, das gerade bei Staatsbesuchen gern gezeigt wird, ist es niemals nur einträchtig zugegangen, auch nicht in diesem Jubiläumsjahr. Doch das deutsch-chinesische Verhältnis hat sich als solide genug erwiesen, um dergleichen zu verkraften. Einige kritische Worte schaden ihm nicht.

Keine Frage: China und Deutschland sind von herausragender Bedeutung füreinander. Doch eine solche Aussage bedarf der Differenzierung in zweifacher Hinsicht. Zum einen: Wir sollten stets die unterschiedlichen Größenordnungen im Auge behalten. Als Ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen spielt China in einer anderen Liga der Weltpolitik als Deutschland. Dreh- und Angelpunkt chinesischer Außenpolitik ist das Verhältnis zu den USA - seit dem 11. September 2001 gilt dies mehr denn je. Zum anderen: eine bewährte Tradition und der hohe Stellenwert, den die Zusammenarbeit mit Deutschland aus chinesischer Sicht heute einnimmt, versprechen allein noch kein Privileg für die Zukunft. Die Verantwortlichen in China sehen sich heute überall in Europa und in der Welt nach Partnern um. Wie weit sie sich für deutsche Angebote entscheiden, hängt von Deutschlands eigener Wettbewerbsfähigkeit ab, nicht zuletzt auch vom Niveau seiner Forschungs- und Bildungseinrichtungen.

Gleichwohl: auf dem Fundament der vergangenen drei Jahrzehnte lässt sich weiterbauen, wenn der Strukturwandel in China weiterhin friedlich verläuft. Aber unter diesem Vorbehalt stehen  heute alle China-Prognosen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!