Sachsenmaier, Dominic, Die Aufnahme europäischer Inhalte in die chinesische Kultur durch Zhu Zongyuan (ca. 1616-1660). Monumenta Serica Monograph Series XLVII. Sankt Augustin: Steyler Verlag 2001. ISBN 3-8050-0455-9. 472 Seiten.
Gregor Paul, Universität Karlsruhe
Sachsenmaiers Untersuchung stellt dar, wie Zhu Zongyuan chinesischen Zeitgenossen das Christentum zu vermitteln suchte. Zhu hatte sich die wichtigsten Lehren des Katholizismus über direkte Gespräche mit christlichen Missionaren und über die Lektüre chinesisch-sprachiger Texte angeeignet. Er war keiner Fremdsprache mächtig, aber ein gebildeter, ja gelehrter Kopf und von daher befähigt, auch vertrackt-spekulative "fremde" Doktrinen aufzunehmen. Zhu war bestens vertraut mit den Traditionen des sogenannten Konfuzianismus. Außerdem kannte er einflussreiche Strömungen aus Buddhismus und Daoismus. Sachsenmaier sieht Zhus Bemühungen letztlich als Versuch, die "Einheit des Christentums und des Konfuzianismus" nachzuweisen (S. 22, 44, 60).
Dabei lässt Sachsenmaier in seinen klaren, genauen und differenzierten Ausführungen freilich keinen Zweifel daran, wie problematisch die allgemeinen Etiketten "Konfuzianismus", "Buddhismus" und "Daoismus" sind. Statt von Konfuzianismus zu sprechen, verwendet er denn auch wiederholt den treffenden Ausdruck "Schule der Gelehrten" (rujia) [S. 53]. Doch spricht es ebenso für ihn, dass er im Interesse der Lesbarkeit nicht gänzlich auf konventionelle Bezeichnungen verzichtet.
Sachsenmaiers Ergebnisse sind in vielerlei Hinsicht exemplarisch. Sie zeigen, wie Neues und "Fremdes" als Ergänzung, ja als Vollendung des "Eigenen" begriffen und zur Aneignung empfohlen werden kann (S. 64), indem man sich bei der Einführung des Neuen auf (1) methodologische, anthropologische und kulturelle Universalien und auf (2) Übereinstimmungen mit eigenen Traditionen und traditionseigenen Idiosynkrasien stützt und beruft und indem man 3) Differenzen als implizite Konsequenzen auch der eigenen Traditionen interpretiert.
(1) Eine methodologische Universalie reflektierte der vor allem von Matteo Ricci formulierte Ansatz, den Glauben an einen einzigen (Schöpfer)gott auf dem Weg der Fundamentaltheologie zu vermitteln (S. 72). Statt von Fundamentaltheologie kann man auch von einem philosophischen Konzept sprechen. So entwickelten zum Beispiel Aristoteles und Leibniz Argumentationsketten, die sie als Beweise für die Existenz eines höchsten Wesens verstanden und verstanden wissen wollten. Es geht in diesem Zusammenhang nicht um die Frage, ob diese sogenannten Gottesbeweise stichhaltig sind oder sein können. Auch ein mathematischer Beweisversuch kann fehlschlagen. Nichtsdestoweniger bleibt er Teil der Mathematik. Es geht um die Auffassung und das Bemühen, eine Behauptung allein unter Einsatz von Mitteln zu begründen, die, wie man meint, Erkenntnisinstrumente bilden, die prinzipiell von allen Menschen verwendet werden (können und sollten) und die zu allgemeingültigen Resultaten führen. Näherhin geht es vor allem um die Mittel der Logik. Zu den gebräuchlichen Ausdrücken, die im gegebenen Kontext verwendet wurden und werden, gehören auch die Begriffe rationaler und natürlicher Theologie und der Erkenntnisse des "natürlichen Lichts", des lumen naturale (S. 55f., Anm. 13, S. 67). Wenn ich Sachsenmaier richtig verstehe, hat Zhu den fundamentaltheologischen Ansatz nicht ganz so entschieden verfolgt wie Ricci. Doch findet er sich auch bei ihm. Radikaler als Ricci hat er freilich die Überzeugungskraft des Ansatzes dadurch zu stärken versucht, dass er die Ausdrücke tian, "Himmel", und (shang)di, "Herr (in der Höhe)", die sich im Shijing und Shujing, den "Klassikern der Lieder" und "Urkunden", finden, mit Bezeichnungen für den christlichen Gott identifizierte, der in der Shang- und Zhou-Zeit eben noch nicht (in hinreichender Klarheit) erkannt worden sei (S. 61f., 76).
(2) Damit verwies er nicht nur auf seines Erachtens bestehende kulturelle Universalien, sondern auch auf Übereinstimmungen zwischen christlicher Offenbarung und klassischem chinesischem Schrifttum. Kulturelle Universalien bringt Zhu insofern ins Spiel, als hinter seinem Hinweis die in Zweigen der katholischen Theologie heute noch aktuelle Überzeugung (Salzburger Theologische Zeitschrift 2/2000) steht, dass das frühe Schrifttum zumindest der Hochkulturen Offenbarungscharakter besitze, und sei er auch vage und implizit. D.h. dass die in entsprechenden Texten nichtchristlicher Kulturen verwendeten Namen für Götter sich letztlich auch und entscheidend auf den christlichen Gott und dessen Glaubensartikel beziehen. "Konfuzianische" Idiosynkrasien machte sich Zhu zum Beispiel zunutze, wenn er sich gegen Formen buddhistischen und daoistischen Wunderglaubens wandte und ihn als Aberglauben zurückwies. Andererseits boten gerade populäre religiöse Formen des Buddhismus und Daoismus Anknüpfungspunkte, um etwa die Berechtigung und existenzielle Relevanz eines Jenseitsglaubens zu unterstreichen.
(3) In der Tat dürften die irrationalen und Transzendenz-bezogenen Lehrstücke des Katholizismus das größte Vermittlungsproblem dargestellt haben. Dazu gehör(t)en die Dogmen von der Erbsünde (S. 105), der Eucharistie (S. 213) und das Theodizeeproblem. Aus Sachsenmaiers Darstellung zu schließen gelang es auch Zhu nicht, die diesen Fragen inhärenten Aporien und Widersprüche argumentativ aufzulösen. In der Tat dürfte dies unmöglich sein. Doch bemühte sich Zhu, davon zu überzeugen, dass es sich eben um Glaubensinhalte handle, die nur über Offenbarung zugänglich seien. Er betonte etwa den Konfuzius bzw. den dem Lunyu eigenen erkenntnistheoretischen Agnostizismus. Dies ergänzte er durch Hinweise auf die Unverzichtbarkeit eines Gottes- und Jenseitsglaubens. Existentielle Bedürfnisse, Gerechtigkeitsprinzipien (S. 100) und schließlich Fakten der Offenbarung machten ihn erforderlich. Damit konnte Zhu die christliche Offenbarung als Vollendung eines im klassischen chinesischen Schrifttum über die Namen tian und (shang)di formulierten, aber (noch) unvollständig bestimmten Gottesglaubens und einer (in jener Zeit) dementsprechend angemessenen epistemologischen Bescheidenheit und Zurückhaltung hinstellen.
Wie schon die frühen chinesischen Buddhisten sahen sich auch die frühen chinesischen Christen mit dem ethno- und kulturzentrischen Vorwurf konfrontiert, "Unchinesisches" und deshalb Falsches, Irriges oder doch Unangemessenes zu vertreten. In diesem Punkt hatte Zhu freilich leichtes Spiel. Denn wie die frühen Buddhisten konnte auch er auf die argumentativen -- und d.h. heißt auch method[olog]ischen -- Schwächen der Vorwürfe aufmerksam machen. Er konnte zeigen, dass, wie wir heute sagen, (a) Geltung keine Funktion der Genesis ist (S. 131) und dass (b) dies auch der Standpunkt der "konfuzianischen" Klassik war (S. 128ff.). Denn er konnte aus den Klassikern zitieren und so belegen, dass anerkannte Persönlichkeiten, ja selbst Kulturheroen wie Shun und Yu aus Barbarenländern stammten bzw. ("ursprünglich") Barbaren gewesen seien (S. 138f., 144). Damit konnte er seinen Gegnern auch einen performativen oder pragmatischen Selbstwiderspruch nachweisen. Und schließlich wies er wie die frühen Buddhisten einfach auf die Tatsache hin, dass (c) die Konzepte des Chinesischen und Barbarischen geographischen wie kulturellen Veränderungen unterlegen seien, und dass dies auch zu akzeptieren sei. Zu den weitergehenden anti-traditionalistischen und anti-chauvinistischen Argumenten gehörten die Argumente, dass (d) Qualität und Akzeptabilität praktischer Prinzipien Funktion der (universalen?) Moral und nicht der Geographie etc. seien (S. 131, 137) und dass (e) (entsprechende) Veränderungen zum Besseren willkommen zu heißen seien (S. 129).
Sachenmaiers Untersuchung ist auch ein exzellenter Beitrag zur Rekonstruktion des interkulturellen Diskurses zwischen "Europa" und "China", wie er von einem chinesischen Gelehrten geführt wurde, der Europa ("das Christentum") bewunderte. Wie Ricci und Leibniz sah und betonte auch Zhu Zongyuan das "Allgemeinmenschliche" und wie vor allem Leibniz versuchte er, die "fremden" Besonderheiten zu verstehen, wenn nicht sogar als nachahmenswerte spezifische Leistungen hinzustellen. Das von Zhu vermittelte Europa-Bild war sogar unkritisch positiv (S. 155ff.). Vielleicht war es auch zu sehr Resultat missionarischer Interessen. Wie bei Leibniz mag mitunter auch der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen sein. Aber ebenso sicher ist und bleibt auch die Erkenntnis, dass all die, die das Relevante in den kulturellen Differenzen sahen -- das Papsttum, die Spätromantik, der sogenannte Deutsche Idealismus (d.h. vor allem Fichte und Hegel) -- sogar politisch scheiterten.
Die klare Gliederung, der sehr gute Stil, die Reichhaltigkeit des Materials, der Einschluss kompletter chinesischer Versionen der wichtigsten Texte Zhus, Literaturverzeichnis und Index machen Sachsenmaiers Buch zu einer selten lesenswerten Veröffentlichung. Vor allem aber sind Sachsenmaiers Analysen treffend und instruktiv. Will man überhaupt bestimmte Ausführungen in Frage stellen, dann die Interpretation des "Konfuzianismus" als einer Richtung, die die Vergangenheit um ihrer selbst willen schätzte oder zu schätzen schien. Lunyu, Menzius und vor allem Xunzi gehen nämlich nicht von der Existenz einer uneingeschränkt goldenen Zeit aus. Und wenn sie Vergangenes preisen, dann nicht um dessen Alters, sondern um dessen moralischer Qualität willen.