Gregor Paul
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Zur jüngeren Rezeption japanischer Philosophie im deutschsprachigen Raum: Mission, systematische Missverständnisse, Klischees und Vorurteile (1999)

Gregor Paul, Universität Karlsruhe

Die Frage, ob es im vor-Meiji-zeitlichen Japan Philosophie gegeben habe, ist noch vor 20 Jahren umstritten gewesen. Vielleicht gibt es auch heute noch Interpreten des sogenannten japanischen Denkens, die ernsthaft behaupten, dass dem nicht der Fall sei. Sie nehmen dann eine unhaltbare Position ein; denn rationales, kritisches und selbstkritisches Reflektieren etwa grundlegender Fragen der Ethik, Logik und Ontologie - ja selbst der Kantischen Frage, wie der Mensch leben solle - kennzeichnet bereits Nara-zeitliche Texte. Und selbstverständlich ist auch die Verfassung in 17 Artikeln   ein auch philosophischer Text. Schinzingers schmaler Band aus dem Jahr 1983 trägt noch den Titel Denken in Japan. Brülls Einführung in die japanische Philosophie äußert noch einen gewissen Zweifel, ob man von einer vor-Meiji-zeitlichen Philosophie "im westlichen Sinne" sprechen könne. Dies ist, nebenbei gesagt, eine in ihrem Wortsinn problematische und irreführende Ausdrucksweise. Der von Kracht herausgegebene Band Japanische Geistesgeschichte[1] schließt einen Aufsatz von Saigusa Hiroto ein, der die Frage nach der Existenz von Philosophie in Japan zum Gegenstand hat. Mittlerweile dürfte sich jedoch die Einsicht durchgesetzt haben, dass auch im traditionellen Japan eine beachtliche Philosophie existierte. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Untersuchungen Pörtner/Heises, Hamada Junkôs und auf eigene Studien[2]. Das heißt, dass sich die sozusagen professionelle Rezeption - sprich: die berufsmäßig japanologische und philosophische Rezeption - in dieser Hinsicht zumindest ein wenig von der Exotisierung und Verfremdung Japans entfernt hat.

Im großen ganzen ist freilich auch die professionelle Rezeption japanischer Philosophie im deutschsprachigen Raum derart eng und einseitig, dass sie eine unzutreffende und irreführende Vorstellung von Umfang, Inhalt und Qualität der Philosophie in Japan insgesamt und der sie konstituierenden einzelnen Strömungen, Schulen und Texte vermittelt. Abgesehen von meiner eigenen Arbeit existieren nur wenige umfassendere und detailliertere deutschsprachige Studien der japanischen Philosophie der vor-Heian-Zeit. Wie Hannelore Eisenhofer-Halims Arbeit über Dôshô und Marcus Bingenheimers noch unveröffentlichte Arbeit über die sôgakusha - die zu Studienzwecken ins Tang-zeitliche China gereisten gelehrten Buddhisten - der Nara-Zeit sind sie jedoch eher biographisch-historischen als sachlichen Inhalts[3]. Lediglich Tendai und Shingon finden in den letzten Jahrzehnten auch in dieser Hinsicht nennenswerte Berücksichtigung. Und bereits dies ist in dem Sinn kennzeichnend für Interesse und Vermittlung, dass das tatsächlich oder scheinbar besonders Fremde oder - was immer es denn sein mag - besonders 'Japanische' besondere Aufmerksamkeit findet.

Das gilt auch für die vereinzelten Ausführungen zur Kegon-Schule. Was Franziska Ehmcke anläßlich der Tôdaij-ji-Ausstellung im Herbst 1999 im Kölner Museum für Ostasiatische Kunst über die Kegon-shû und das Kegon-Sutra vortrug, reihte sich zum Teil in New-Age-Bekenntnisse ein: Sie brachte das Sutra mit der Relativitätstheorie in Verbindung, sah in ihm eine Quelle für Technologie- und Rationalitätskritik, eine Altermative zum modernen "Westen" und wohl auch einen Ausdruck gänzlich 'anderen' Denkens. Kritik wie der, dass Sutra und Kegon-Schule auch zu Inhumanität Anlass gaben und Konsistenzkriterien nicht genügten, begegnete sie mit den Hinweisen, dass 'alle Religionen' und ähnliche Systeme ihre bedenklichen Seiten hätten oder missbraucht werden könnten und dass sie jedenfalls bereit sei, aus Fremdem und Altem zu lernen. Dass man aus Fremden und Alten lernen kann, ja soll, ohne dabei aus allem Fremden und Alten lernen zu müssen, kam nicht zur Sprache. Franziska Ehmckes Vortrag stieß im Publikum weithin auf unkritische, ja fast begeisterte Zustimmung. Einwände gegen ihn wurden mit verhaltenem Unwillen zur Kenntnis genommen. Es mag sein, dass Franziska Ehmcke das Kegon-Sutra für philosophisch irrelevant hält. Mein Eindruck war freilich eher der, dass sie das Sutra als ein Werk auffasst, das unterschiedlichsten Textsorten zuzurechnen ist. Wenn sozusagen offizielle Vertreter der professionellen Japanologie vor interessiertem, aber uninformiertem Publikum so formulieren, dass dies - wiewohl oft unbeabsichtigt - Exotismus und Esoterik Vorschub leisten kann, dann ist außerhalb von Fachkreisen erst Recht keine nüchterne Rezeption zu erwarten.

Anders ausgedrückt, widmen sich deutschsprachige Studien ganz überwiegend Gegenständen wie hochspekulativem, Ontologie-zentriertem Buddhismus, Zen, der Kyôto-Schule und gar dem Shintô. Was letzteren angeht, so fehlt bisher jede Erklärung dafür, dass oder warum es sich bei ihm insgesamt oder im Grundsätzlichen um eine philosophische Orientierung handelt. Die Arbeiten Nelly Naumanns[4] zeigen, dass solch ein Nachweis auch so gut wie unmöglich wäre.

Was die Philosophie nach der Heian-Zeit angeht, so gilt: Außer den im Kreis um Klaus Kracht entstandenen Arbeiten zum japanischen Neo-Konfuzianismus[5], Darstellungen der Werke von Nishi Amane, Nishimura Shigeki und Inoue Tetsujirô[6] sowie meinen eigenen Untersuchungen zu Asuka- und Nara-zeitlichem Konfuzianismus, philosophischer Ästhetik, scholastischem Buddhismus und insbesondere buddhistischer Begründungstheorie[7] bleiben Gegenstände, Namen und Methoden, die außerhalb schwer verständlicher oder einfach widersprüchlicher buddhistischer spekulativer Ontologie, Zen und Kyôto-Schule liegen, weithin völlig unbeachtet.

Dabei zeichnen sich insbesondere die Arbeiten, die aus dem Kreis der Kyôto-Heidegger- oder aus Heidegger-Kyôto-Verbindungen kommen, durch eine - und dies ist in deskriptivem Sinn zu verstehen - erstaunliche Ignoranz (a) anderer 'japanischer' philosophischer Orientierungen und Auffassungen, (b) der kritisch gegen Kyôto-Schule, Heidegger und einschlägiges Zen-Verständnis gerichteten Argumente und (c) der - ja bekannten - fatalen, den Lehren der Kyôto-Schule impliziten problematischen Konsequenzen aus. Seit Jahrzehnten werden Überzeugungen von mehr oder weniger spezifisch östlichem Denken repetiert, werden Schlagwörter wie 'Leere' und 'Nichts' wiederholt, wird die Identität von wahrer und konventioneller Wirklichkeit gefeiert, unmittelbare Erfahrung zitiert, auf eine angeblich ursprüngliche Einheit von Natur und Mensch im japanischen Denken verwiesen[8] und ein 'westlicher' Natur-feindlicher Anthropozentrismus gegeißelt[9], ohne dass auch nur eine einzige ausführliche und detaillierte Auseinandersetzung mit philosophischen Alternativen und den zahlreichen gegen solche Positionen vorgebrachten Argumenten geführt worden wäre. Jedenfalls ist mir keine bekannt. Die Arbeiten Rombachs, Ôhashis, Elberfelds, Arifukus, Maflis, Buchners, Weinmayrs, Matsudôs und vieler anderer bleiben in ihrer eigenen, hermetischen Welt befangen[10]. Gegenargumente werden oft nicht einmal genannt, geschweige denn angemessen diskutiert. So schön etwa Elberfelds Nishida-Übersetzung Logik des Ortes  ist, so unphilosophisch - d.h. bar jeder Selbstkritik und kritischen Auseinandersetzung - muten die Einführung und die Erläuterung von Nishidas Logik-Begriffen an. Und dies gilt noch mehr für andere Veröffentlichungen Elberfelds wie insbesondere seine Einführung zu Nishida und zur Komparatistik. In den im Übrigen ausführlichen bibliographischen Hinweisen findet sich - wenn ich recht sehe - kein einziger Nishida-kritischer Titel. Der schlechte Mythos, dass Nishida den "Anfang der modernen Philosophie in Japan" inauguriert habe, wird von Elberfeld gar in den Titel aufgenommen. Er hätte doch wenigstens erklären müssen, warum dies nicht vielmehr von Philosophen wie beispielsweise Nishi Amane oder Fukuzawa Yukichi gelte. Weil Nishidas Philosophie irgendwie 'japanischer' sein soll als die etwa Amanes? Ist 'japanisch' zu sein, irgendein Kriterium für philosophischen Charakter oder Wert? Oder weil Nishidas Philosophie in irgendeinem Sinn origineller ist als die etwa Nishi Amanes? Selbst wenn dies so wäre, bliebe Nishis Philosophie  immer noch frühere moderne Philosophie in Japan.

Einer der wenigen, die sich in ihrer Auseinandersetzung mit Nishida und Zen auf eine differenzierte kritische Argumentation einlassen, ist Christian Steineck. Seine entsprechenden Studien sind jedoch nur zum Teil veröffentlicht.

Wie ist dieser Sachverhalt bzw. diese Situation zu erklären? Es ist eine Trivialität, aber nicht unwichtig festzuhalten, dass für ihn jedenfalls auch Gründe historischer, soziologischer und psychologischer Art verantwortlich sind. Einmal besteht die Verbindung zwischen Heidegger und Heiddeggerianern einerseits und Vertretern und Sympathisanten der Kyôto-Schule andererseits seit den 1920er Jahren. Auch während des Zweiten Weltkriegs riss sie nicht ab. Es gelang den Beteiligten, im deutschsprachigen Raum und insbesondere bei Organisationen wie DAAD, Humboldt-Stiftung und DFG die Überzeugung zu vermitteln, dass die Philosophie der Kyôto-Schule sozusagen japanische Philosophie überhaupt repräsentiere oder exemplifiziere. Dem entspricht, dass außer Japanologen kaum jemand Namen wie Kûkai, Itô Jinsai, Ogyû Sôrai oder gar japanischer buddhistischer Scholastiker kennt. Und sofern außerhalb engster Expertenkreise überhaupt je ein Deutscher oder eine Deutsche von Logik-Studien in Japan gehört oder gelesen hat, dann in einer Rezeption Daisetz Suzukis, dessen logikfeindliche - entweder aus Ignoranz geborene oder bewusst als Lügen formulierte - Invektiven immer noch große Verbreitung finden und massive Wirkung zeitigen. Anders gesagt, finden anscheinend Anträge auf finanzielle Unterstützung von Kyôto-Schule-bezogenen Projekten oft willige Ohren, scheinen sie doch eigene bescheidene Kenntnisse oder Überzeugungen zu bestätigen bzw. erstarrten, lieb gewonnenen Vorurteilen entgegen zu kommen, während auf rational-kritische Philosophie in Japan bezogene Vorhaben im doppelten Sinn des Wortes auf Unverständnis stoßen. Das gilt auch für die oft sachlich völlig überforderten Gutachter. Es liegt mir daran, festzuhalten dass ich selbst noch keinen derartigen Antrag gestellt habe und nicht etwa eigenes Schicksal beklage.

So erhält und nährt also ein akademisches Teilsystem sich selbst. Weitere Gründe liegen in der bekannten Sehnsucht nach dem - angeblich oder tatsächlich - besonders Fremden, Exotischen usw. und nach einer - angeblichen oder tatsächlichen - Alternative zur vorgeblich nüchternen, verwissenschaftlichten, technisierten und in diesem Sinn fragwürdigen 'westlichen' Kultur. Sie sind meines Erachtens auch für solche globalen Hypothesen (mit)verantwortlich, wie sie Pörtner/Heise in ihrer Darstellung der Geschichte der Philosophie in Japan formulieren. So soll nicht der Satz des Grundes, sondern ein Satz vom unzureichenden Grund für japanische Philosophie, ja die Philosophie des Ostens überhaupt leitend gewesen sein[11]: eine groteske Behauptung, wenn man an buddhistische Kausalitätstheorien denkt.

Die Soziologie des akademischen Betriebs gilt freilich prinzipiell für alle Richtungen und Beteiligten. Zufälle, Politik, Ideologie und Sehnsüchte haben der Nishida- und Kyôto-Schule zu der Stellung verholfen, die sie heute im deutschsprachigen Raum einnimmt. Das Nüchterne, Argumentative, Rationale mag noch so gültig sein. Aufgrund seines spezifischen Charakters lässt es sich nicht so leicht mit Politik, Ideologie und Sehnsucht verbinden. Es mag sogar sein, dass Argumente jede Ideologie - Ideologie im Sinne schlechter Ideologie - ausschließen. So fehlt es an der emotionalen Komponente oder an emotionaler Unterstützung.

Am besten zeigt, worum es in der Sache geht, die - trotz nachlassender Intensität - anhaltende Diskussion um eine östliche Logik. Sie zeigt dabei auch, welche handwerklichen Fehler Japanologen zu der Behauptung führen, dass - etwa - das Tetralemma eine spezifisch östliche und spezifisch japanische Logik konstituiere oder indiziere. Ungeprüft übernimmt Brüll entsprechende - unbelegte - Hypothesen Takakusus. Pörtner/Heise zitieren dann die Äußerungen Brülls. Das heißt sie kolportieren ohne jede philologisch-historische Prüfung ein gängiges Klischee. Dass das Tetralemma nicht das Mindeste mit einer "anderen Logik" zu tun hat, ist im Übrigen leicht nachzuweisen. Grob gesagt, gilt: als reines Tetralemma kommt es sehr selten vor. Es setzt die Prinzipien der Widerspruchsfreiheit und des ausgeschlossenen Dritten voraus und wendet sie an. "A und Nicht-A" bedeutet nicht, dass der Satz des Widerspruchs negiert wird. Im allgemeinen bedeutet es ohnehin eine Verbindung der Art, dass etwas aus A und Nicht-A bestehe etc. Weder "A noch Nicht-A" ist völlig unproblematisch, wenn man, wie im Buddhismus nicht selten der Fall, Nicht-Existenz nachweisen will. Da weder blaue noch nicht-blaue geflügelte Pferde existieren, existieren gar keine Pferde.[12] Die erstaunliche Nachlässigkeit Brülls, Pörtners und Heises - professioneller Japanologen - im Umgang mit den Quellentexten - ja die vollständige Ignoranz von Quellentexten -, die nicht ins engere Interessengebiet einschlagen, ist bei der Fülle des Textmaterials zwar verständlich; denn niemand kann alles oder gar alles "aus erster Hand" wissen. Gesamtdarstellungen bleiben nichtsdestoweniger unentbehrlich. Aber die kühnen, in fast jeder methodologischen Hinsicht fragwürdigen kulturrelativistischen Thesen sind schwerlich entschuldbar.

Obwohl sich Pörtner/Heise auch darum bemühen, rationale Elemente der Philosophie in Japan explizit zu machen, gelingt es ihnen letztlich nicht. Sie wollen in der Rationalität der japanischen Philosophie eine "andere" Rationalität sehen. Das mag auf einer gewissen spezifischen Ebene zutreffen. Es trifft jedenfalls stets zu, wenn man nur hinreichend logisch spezifiziert. Die Frage ist, welche Relevanz solch spezifischen Unterscheidungen zukommt. Ich spreche gern davon, dass man auch zwei Hühnereier unterscheiden könne, aber kein Hahn danach krähe. Selbstverständlich will ich damit nicht insinuieren, dass die Differenzen zwischen Philosophien verschiedener Kulturen den Unterschieden zwischen zwei Eiern glichen. Aber sie sind jedenfalls nicht grundsätzlicher Art, und die spezifische Ebene auszumachen, auf der sie liegen, ist schwierig. Was Philosophie in Japan angeht, so sind das oft Gattung und Form der Darstellung:  literarische Texte und literarischer Stil. Inhaltlich gesehen, war es weithin  die - schlichtweg geopolitisch bedingte - Rezeption der Philosophie chinesischer Kulturen. Später war es dann vor allem die unausweichliche politische Begegnung mit dem westlichen Imperialismus und Kolonialismus. Dazu kommen mitunter ideologische Determinanten wie etwa die Kokutai -Ideologie und der Tennôismus. Die von Pörtner/Heise behaupteten Unterschiede dagegen wären, wenn sie denn existierten, von so fundamentaler Art, dass sie auch deren These von einer anderen Rationalität - einer topischen Rationalität etwa - ad absurdum führten. Wie gesagt, ist ja Philosophie in Japan nach ihrer Auffassung durch den Ausgang von einem eigenen Prinzip, dem des nicht zureichendes Grundes, geprägt. Dazu kommen ihnen zufolge grundsätzliche Unterschiede in der Anerkennung logischer Gesetze. Ja, halbwegs wörtlich verstanden, aber wohl nicht so gemeint, behaupten sie die Inkompatibilität 'westlicher' und 'östlicher' Logik. Ich komme darauf zurück. Und schließlich ist die Frage nach dem Charakter der Philosophie in Japan nach ihrer Auffassung nur aus dem Ganzen orientalischer Kultur zu beantworten[13]. Abgesehen davon, dass ein derartig holistischer Ansatz undurchführbar ist, ist er auch in anderer Hinsicht problematisch. Denn wie will man "vom Ganzen orientalischer Kultur" reden, ohne vom Menschen überhaupt zu sprechen? Wo und wann beginnt 'die orientalische Kultur'? Wie will man grundlegende Hypothesen über Jahrtausende verschiedener Ethnien, Sprachen, Religionen, Philosophien, Herrschaftssysteme, Lebensgewohnheiten und vieles andere mehr formulieren, ohne Gültiges und Relevantes über den Menschen überhaupt zu sagen?

Und noch einmal zur Frage der östlichen Logik. Die Hypothese, daß es (ganze) Kulturen gebe, in denen das Denken einer 'anderen Logik' folge, existiert in zahlreichen Varianten. Häufig ist von einer "östlichen Logik"[14], einer (spezifisch) buddhistischen Logik[15], einer "konfuzianischen Logik"[16] oder einer "chinesischen Logik"[17] die Rede. Selbst in ihrer radikalen Form, der zufolge, grob gesagt, verschiedene Kulturen Klassen miteinander inkompatibler logischer Prinzipien einschließen, hat diese Hypothese Eingang in die Massenmedien gefunden. So hieß es in einer einflußreichen deutschen Tageszeitung:

Die "Einwände [der außereuropäischen Opponenten] gegen die europäische Auffassung der Menschenrechte beruhen ja auf Gründen, die aus der andern Logik dieser anderen Kulturen sehr gut erklärbar sind."[18]

"[...] die Argumentation [ist] eine genuin abendländische Veranstaltung [...], die seit jeher mit dem Verfahren unserer formalen Logik verbunden ist."[19]

In ähnliche Richtung geht die Bemerkung G. Hofstedes, dass „das westliche Interesse an der Wahrheit“ durch ein in „westlicher Logik begründetes Axiom [das Widerspruchsfreiheitsprinzip der Form a ist nicht Nicht-a] gestützt [werde], wonach eine Aussage deren Gegenteil ausschließt“. „In der östlichen Logik“ gebe es „kein derartiges Axiom.“[20] Prägnant gesagt, implizieren die zitierten Behauptungen ihrem Wortsinn nach, dass es kulturspezifische Klassen gleichermaßen gültiger - sozusagen konkurrierender - logischer Prinzipien gebe, die es erlauben, aus identischen Prämissen in gleichermaßen gültiger Form verschiedene Resultate zu 'folgern' oder 'abzuleiten'. Für interkulturelle - und insbesondere politische - Auseinandersetzungen um Ethik(en) und moralische Werte hätte dies fatale Konsequenzen. Selbst bei identischen Voraussetzungen würden die Mitglieder verschiedener Kulturen zu unterschiedlichen, gleichermaßen gültigen  Folgerungen, Begründungen und Rechtfertigungen gelangen können. Eine These wie die S. P. Huntingtons, der zufolge die Differenzen zwischen Kulturen das Konfliktpotential für das nächste Jahrhundert bilden, gewönne damit entschieden an Brisanz.

Das heißt, dass selbst als Nachschlagewerke angelegte professionelle Darstellungen wie die Brülls und Pörtner/Heises dem vorherrschenden Muster der Japan-Rezeption folgen und es festigen. Sie lassen - vielleicht ungewollt - Philosophie in Japan als etwas grundlegend Anderes, ja Befremdliches erscheinen, indem sie fragwürdige fundamentale Unterscheidungen formulieren und eine Auswahl und Verteilung des Stoffes treffen, die äußerst einseitig und unvollständig ist. Das Gewicht liegt dabei, um es noch einmal zu sagen, auf zennistischen Doktrinen und den Lehren Nishidas und der Kyôto-Schule, während anderes gar nicht erwähnt, nur kurz angesprochen oder gar falsch dargestellt wird.

Man mag meinen, die Sache sei die Diskussion oder jedenfalls die Polemik nicht wert. In der Tat sollte man sich stets fragen, ob sich eine philosophische Auseinandersetzung überhaupt "lohnt". Nicht, dass damit plattem Nützlichkeitsdenken das Wort geredet werden soll. Aber immerhin ist professionelles Philosophieren auch ein oft gut bezahltes Vergnügen, ein bekömmlicher Genuss. Ich jedenfalls habe es stets so empfunden. Außerdem gibt es wichtigere Fragen als die nach einer östlichen Logik. Aber die Relevanz einer kritischen Auseinandersetzung mit der weithin dominanten Art der Rezeption japanischer Philosophie im deutschsprachigen Raum lässt sich zeigen. Sie liegt darin, dass gerade solche Lehren Anklang finden, die argumentativ schlecht begründet sind und dabei gefährliche ethische Implikationen besitzen. Anders gesagt, handelt es sich um Lehren, die aufgrund ihrer Ansätze, Inhalte und Systematik - und nicht einfach, weil jede Lehre missbraucht werden kann - Nationalismus, Totalitarismus und Inhumanität begünstigen. Das detaillierte Material, das Brian Victoria in Zen at War ausbreitet, bestätigt diese Behauptung, die ich ja schon vor Jahren in meinen Analysen der Ontologisierung der Ethik, der Identitätslehren und Buddha-Natur-Konzepte zu begründen suchte. Die Ontologisierung der Ethik - die Auffassung, dass das Gute eine Funktion des grundlegend oder wahrhaft oder wirklich Seienden - von li (jap. ri, Prinzip), tathatâ (jap. shinnyo) oder der Buddha-Natur (busshô) - sei, die als grundlegendes Seiendes auch dem Menschen 'ursprünglich' eignen sollen - als benxing (jap. honsei) oder eben als Buddha-Natur -, wirft unlösbare erkenntnistheoretische Fragen auf und besitzt höchst zweifelhaften empirischen Gehalt. Was denn "ursprüngliche Natur" des Menschen sei und welcher Mensch denn mit ihr ausgestattet sei, lässt sich schlichtweg nicht beantworten. Es ist letztlich Gegenstand willkürlicher Spekulation, die sich aufgrund privilegierter Bildung, rhetorischen Talents und - vor allem - aufgrund von Macht durchsetzt. Außerdem begünstigt die skizzierte Ontologisierung organistische Staats- und Gesellschaftstheorien und damit totalitäre Ideologien. Dies um stärker, als sie in ihrer Vernachlässigung der unabdingbaren Unterscheidung zwischen Sein und Sollen das Dogma stützt, dass das Bestehende wegen seines bloßen Bestehens Norm sei. Identitätslehrstücke wie die, das samsara identisch mit nirvana sei, erleichtern die Hypothese, dass es letztlich keinen Unterschied zwischen Gut und Böse gebe oder dass das einzige Kriterium moralischer Legitimität das richtige - erleuchtete - Bewusstsein sei. Abgesehen davon, sind sie entweder unsinnig. Oder sie sind keine philosophischen, sondern - etwa -religiöse Lehrstücke. Dann sollte daraus freilich auch kein Hehl gemacht werden. Denn warum muss alles philosophisch sein? Nicht, wer zwischen Philosophie und Religion unterscheidet und damit - neben anderem - begriffspragmatischen Überlegungen folgt, sondern wer darauf pocht, dass seine Religion auch Philosophie sei, schätzt Religion gering. Der mystifizierende Kult, der um den Begriff der Leere gemacht wird, leistet der Auffassung Vorschub, dass letztlich nichts wahrhaft existiere und deshalb Mord unmöglich sei. Die - fälschlich - als Identitätsformel interpretierte "Leere ist Form und Form ist Leere" scheint erneut Beleg einer spezifisch östlichen Logik. Prinzipiell anderes Denken aber, das dokumentieren die obigen Zitate, kann auch prinzipiell andere Ethik und auch Nationalismus rechtfertigen. Die Floskel von der in Japan - womöglich seit jeher - feststellbaren Einheit von Natur und Mensch trifft weder die historische Wirklichkeit noch normatives Denken. Stets galten im sinojapanischen Raum Kulturheroen und Ingenieure - Brückenbauer wie buddhistische Gelehrte der Nara-Zeit - als Vorbilder. Der nackte, natürliche Mensch war dem Heian-zeitlichen Hof ein Gräuel. Frauen verschwanden unter mehrschichtigen, langen Gewändern, dicker Schminke und Parfum. Japanische Gärten verraten das Interesse an einer Zivilisierung der Natur. Im gegebenen Zusammenhang relevanter ist jedoch, dass auch die Norm von der Einheit von Natur und Mensch - wiewohl keine Identitätsbehauptung - Inhumanität begünstigen kann. Es war und ist nämlich die Erkenntnis, dass der Mensch in gewisser Hinsicht von der Natur unabhängig und deshalb eigener Herr seines Schicksals ist, die Angst vor den Strafen undurchsichtiger Mächte beseitigte und zum eigenen Gestalten motivierte. Das Buch Xunzi, das in Japan durchaus Wirkung zeitigte, stellt dies klar heraus.

Die Übersetzung von Brian Victorias Zen at War ins Deutsche war bitter nötig. Denn zu der unkritischen Darstellung der Lehren Nishidas und der Kyôto-Schule gehört auch das penetrante Verschweigen ihrer fatalen systematischen Implikationen, die - da es sich um ihnen inhärente Probleme handelt - ihre philosophische Qualität beeinträchtigen. Im Grunde ist das unentschuldbar. Denn es handelt sich um bewusstes und absichtliches Verschweigen. Wie angesprochen, kritisieren selbst japanische Gelehrte seit Jahrzehnten Ansatz, Konsequenzen und politische Einstellungen Nishidas und der Kyôto-Schule. Im angelsächsischen Raum existiert eine Fülle einschlägiger Untersuchungen[21]. Allein aus dem deutschsprachigen Raum sind mir - von meinen eigenen Analysen abgesehen - keine vergleichbar kritischen Untersuchungen bekannt.

Kein Mensch akzeptiert gern ein Argument, das seinen Neigungen widerspricht. Es mag noch so gültig und seine Gültigkeit noch so einsichtig sei, und dies auch für den Adressaten. Es gehört zu einer rationalen Einschätzung menschlichen Handelns, keinen Hehl daraus zu machen, dass es weithin von Irrationalität gezeichnet ist. Genauer gesagt, dass wir weithin gegen besseres Wissen oder wider alle Einsicht handeln. Das ändert aber nichts daran, dass Argumente das letztlich einzige Mittel gewaltloser Konfliktlösung bleiben. In Disziplinen, die sich professionell der Argumentation und dem Studium argumentativer Texte verschrieben haben, sollten sie größeres Gewicht besitzen, als es in der Rezeption japanischer Philosophie im deutschsprachigen Raum der Fall ist.



[1] Wiesbaden: Harrassowitz 1988.

[2] Vgl: Pörtner/Heise, Die Philosophie Japans - Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart: Kröner 1995. Hamada Junkô, Japanische Philosophie nach 1868, Leiden: Brüll 1994. Paul, Gregor: Zur Geschichte der Philosophie in Japan und zu ihrer Darstellung, OAG aktuell, hg. von der Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens (OAG), 1. und 2. Aufl. Tokyo 1986. Paul, Gregor (Hg.): Klischee und Wirklichkeit japanischer Kultur, Frankfurt a.M.: Lang 1987. Paul, Gregor: Philosophie in Japan, München: iudicium 1993.

[3] Eisenhofer-Halim, Hannelore: Dôshô (629-700): Leben und Wirken eines japanischen Buddhisten vor dem Hintergrund der chinesisch-japanischen Beziehungen im 7. Jahrhundert, Frankfurt a. M.: Lang 1995.

[4] Vgl vor allem: Die einheimische Religion Japans, 2 Bde., Leiden: Brill 1988 und 1994.

[5] Vgl. insbesondere: Kracht, Klaus (Hg.), Japanische Geistesgeschichte, Wiesbaden: Harrassowitz 1988. Leinss, Gerhard: Japanische Anthropologie. Die Natur des Menschen in der konfuzianischen Neoklassik am Anfang des 18. Jahrhunderts. Jinsai und Sorai, Wiesbaden: Harrassowitz 1995 (= Quellen, Studien und Materialen zur Kultur Japans 2). Kinki, Michael, Knochen des Weges: Katayama Kenzan als Vertreter des eklektischen Konfuzianismus im Japan des 18. Jahrhunderts, Wiesbaden: Harrassowitz 1996.

[6] Vgl. die Arbeiten Brülls und Schmitz' (dessen Studien freilich noch unveröffentlicht sind) zu Nishi und Klaus Antonis und J. Nawrockis zu Inoue Tetsujirô. Insbes.: Nawrocki, J.: Inoue Tetsujirô (1855-1944) und die Ideologie des Götterlandes: Eine vergleichende Studie zur politischen Theologie des modernen Japan, Hamburg: LIT 1998.

[7] Paul, Gregor: Zur buddhistischen Logik und ihrer Geschichte in Japan, OAG aktuell, hg. von der OAG, Tokyo 1992. Paul, Gregor: Der Begriff des ästhetischen Scheins im Genji monogatari. Oder: Von der Vergeblichkeit der Suche nach einer "spezifisch japanischen Ästhetik". In: Hôrin: Vergleichende Studien zur japanischen Kultur 3/1996, S. 57-74.

[8] Tsujimura, Brüll, Pörtner/Heise.

[9] Pörtner/Heise.

[10] Vgl etwa: Mafli, Paul: Nishida Kitarôs Denkweg, München: iudicium 1996. Matsudo Yukio: Die Welt als Dialektisches Allgemeines. Eine Einfürhung in die Spätphilosophie von Nishida Kitarô, Berlin: VISTAS 1990. Elberfeld, Rolf: Kitarô Nishida (1870-1945): Das Verstehen der Kulturen - Moderne japanische Philosophie und Frage nach der Interkulturalität, Amsterdam: Editions Rodopi 1999. Elberfeld, Rolf: Kitarô Nishida: Logik des Ortes, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999.

[11] Pörtner/Heise, S. 5.

[12] Umfassendere Analysen finden sich in meinem Buch Philosophie in Japan und in Hans-Peter Sturms Untersuchung Weder Sein noch Nicht-Sein, Würzburg 1997:

[13] S. 4f.

[14] So bei Nishida. Vgl. auch die Darstellung Maraldos. In: Routledge Companion Encyclopedia of Asian Philosophy 1997, S. 813ff.

[15] Insbesondere bei Frankenhauser, Uwe, Die Einführung der buddhistischen Logik in China, Wiesbaden 1996. Vgl. meine Kritik: Neuere Literatur zur (buddhistischen) Begründungstheorie. In: Hôrin 6/1999, S. 249-260.

[16] So Li You Zheng, S.14.

[17] Zum Beispiel bei Frankenhauser.

[18]  Wolfgang Welsch in der Frankfurter Rundschau vom 3. September 1996.

[19]  Detlef Horster in der Frankfurter Rundschau vom 3. 11. Januar 1997.

[20] Hofstede, Geert, Interkulturelle Zusammenarbeit. Wiesbaden 1993, S. 196. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Thomas Göller.

[21] Vgl. nur Heisig, James W., und John C. Maraldo (Hg.), Rude Awakenings: Zen, the Kyoto School & the Question of Nationalism, University of Hawaii Press 1995.