Opitz, Peter J., Der Weg des Himmels: Zum Geist und zur Gestalt des politischen Denkens im alten China. München: Fink 2000. 313 Seiten.
ISBN 3-7705-3380-1. DM 68,-

Gregor Paul, Universität Karlsruhe

Es ist bereits einige Zeit her, seit Wilhelm Lackner seine Rezension des Opitz-Buches in der FAZ veröffentlichte. Die Besprechung ist letztendlich positiv. Lackners wichtigste Vorbehalte lassen sich in dem Satz zusammenfassen, dass der Titel Der Weg des Himmels eine Einheitlichkeit und Geschlossenheit vor-Han-zeitlichen chinesischen Denkens (des Denkens vor 206 v.u.Z.) suggeriere, die nie bestanden habe. Lackner weist freilich auch darauf hin, dass die Darstellung selbst differenziert genug sei, um ein entsprechendes Missverständnis auszuschließen. Am Ende seiner Stellungnahme bemängelt Lackner noch, dass Opitz "den Forschungsstand der neunziger Jahre" nicht hinreichend "eingearbeitet" habe.

In der Tat ist der Titel ein wenig irreführend. Wie Lackner - und auch Opitz selbst - bin ich der Meinung, dass das vor-Han-zeitliche Denken in sich heterogen war. Insbesondere Xunzis (313?-238?) (politische) Philosophie lässt sich nicht als (Theorie von einem) Weg des Himmels rekonstruieren. Aber sie wird von Opitz, der mit Xunzis Philosophie bestens vertraut ist, auch gar nicht thematisiert. Sorgfältig gelesen braucht der sorgfältig formulierte Titel gar nicht als Reflex eines Anspruchs verstanden zu werden, das gesamte politische Denken im alten China darstellen und erörtern oder unter einem einzigen Konzept subsumieren zu wollen. Es heißt ja im Untertitel "Zum Geist [...] des politischen Denkens". Es geht Opitz wohl darum, die aus seiner Sicht wichtigsten oder für das alte China bezeichnendsten Lehren und Strömungen zu präsentieren. Lackners Kritik an einer - angeblich - mangelhaften Berücksichtigung neuerer Literatur vermag ich überhaupt nicht zu teilen. Soweit ich sehe, gewann die Sinologie in den neunziger Jahren keinerlei Erkenntnisse, die grundsätzliche Einsichten - und um die geht es (auch) in Opitz' Buch - infrage stellte. Das gilt selbst für neuere Textfunde. Charakter und Einschätzung von - wie ich sagen würde, letztlich philosophischen - Fragen der Politik hängen nur in seltensten Fällen von historischen und philologischen Feinheiten ab. Zwar kann zum Beispiel eine relative Chronologie auch für die Rekonstruktion politischer Ideen wichtig werden. Aber die relative Chronologie der chinesischen Geschichte zwischen etwa 700 und 200 v.u.Z. ist im letzten Jahrzehnt nicht gerade erschüttert worden. Und auch der zweiten im gegebenen Zusammenhang wichtigen Frage, dem Problem, ob einst als "alt" angesehene relevante Texte durch neuere Erkenntnisse als Fälschungen etc. "entlarvt" worden seien, trägt Opitz' zur Genüge Rechnung.

Opitz' Untersuchung ist zu empfehlen. Sie bietet einen instruktiven Überblick wichtiger Ströme politischen Denkens seit der frühen Zhou-Zeit (1025-771) bis etwa 250 v.u.Z. Zur Sprache kommen die Entwicklung des Konzepts vom "Mandat des Himmels" und die politischen Doktrinen, die sich mit den Namen Konfuzius (551-479), Menzius (390?-305?), Mozi (490?-403?), Yang Zhu und Laozi (um 300 v.u.Z. oder im 3. Jh. v.u.Z.?) verbinden (lassen). Prägnante Wendungen sollen die jeweils zentralen Lehren kennzeichnen. So redet Opitz - in analoger Reihenfolge - von "der Liebe zum Altertum", "der Richtigstellung des Herzens", einem "Plädoyer für die 'verbindende Liebe'", der "Liebe zum eigenen Selbst" und der "Rettung der Welt durch 'Nicht-Handeln'". Besonders erhellend sind die Ausführungen über die frühe Geschiche des Begriffs vom himmlischen Mandat. Mit ihnen knüpft Opitz auch an frühere eigene Studien an. Gut gelungen ist der Einbezug relevanter Texte aus dem Shijing, dem "Klassiker der Lieder". Er illustriert überzeugend und in eingängiger Weise, dass es sich in der Tat um ein altes und dabei erstaunlich differenziertes Konzept handelt: Zur Herrschaft, zur Ausübung der Macht, ist nur der legitimiert, den "der Himmel" dazu beauftragt hat. Und der Himmel beauftragt nur den, der letztlich zum Wohl der Menschen (ja, der Menschheit) wirkt. Das Konzept selbst entstand, wie Opitz darstellt, als Lösung der Frage nach einer Rechtfertigung gewaltsamer Dynastiewechsel. Wie jeder, der sich mit altchinesischer Geschichte befasst, weiß, stürzten die Shang (im 18. Jh. v.u.Z.) die Xia und die Zhou (im 11. Jh. v.u.Z.) die Shang. Die Zhou empfanden diesen Umsturz offensichtlich selbst als rechtfertigungsbedürftig. Immerhin hatten sie sich gegen eine "vom Himmel" eingesetzte Macht erhoben. Für jede Rekonstruktion schwierig ist die Frage nach dem numinosen Charakter des Himmels-Konzeptes. Opitz gehört zu jenen, die ihn eher betonen. Ich würde das Gewicht eher darauf legen, dass er im Zuge bestimmter Entwicklungen völlig "entmythologisiert" wurde. Aber wie gesagt, war dafür vor allem ein Philosoph wie Xunzi verantwortlich. Solch unterschiedliche Akzentuierungen sind auch Ausdruck unterschiedlicher leitender Interessen. Opitz geht es anscheinend primär um eine Rekonstruktion von Geschichte und Geschichtsmächtigkeit. Stellt man dagegen aus philosophischer Perspektive dar, wird man sich stärker für Fragen der Gültigkeit und der argumentativen Qualität von Lehren interessieren.  Auch Opitz' Rekonstruktion zentraler Doktrinen von Menzius, Mozi, Yang Zhu und Laozi sind klar und überzeugend. Die Auseinandersetzung mit dem, wie Opitz zu Recht feststellt, "Zerrbild", das Yang Zhus Gegner (und insbesodnere Menzius) von ihm entwarfen, ist geeignet, allzu schematische Vorstellungen von klassischer chinesischer Philosophie zu korrigieren.

Opitz' Einschätzung, der zufolge Konfuzius im Wesentlichen Traditionalist gewesen sei, teile ich freilich nicht. Entscheidend ist jedoch nicht Übereinstimmung, die in dieser Frage faktisch ohnehin nicht erreichbar sein dürfte. Seit Jahrhunderten stehen sich hier verschiedene Parteien gegenüber. Entscheidend ist, ob eine Position als argumentativ begründete Hypothese formuliert ist. Und das ist bei Opitz der Fall. Er stützt sich vor allem auf solche Stellen im Lunyu, die die Relevanz des Lernens betonen und es dabei als Aneignung überlieferten und insbesondnere rituellen Wissens charakterisieren. Eine solche Interpretation ist weit verbreitet, und amerikanische Sinologen wie Roger Ames und Henry Rosemont jr. vertreten sie noch weit entschiedener, als Opitz es tut. Sie bleibt freilich für jemand, der wie ich der Meinung ist, dass (auch) das Lunyu die Orientierung an ren, " Menschlichkeit", oder (ren) dao, "dem Weg (der Menschlichkeit)" - und, nebenbei gesagt, nicht dem des Himmels - als höhere Norm begreift als jede Orientierung an bloßer Tradition oder gar bloßem Altertum, fragwürdig. Meines Erachtens lässt sich auch zeigen, dass eine konsistente Rekonstruktion des Lunyu überhaupt nur möglich ist, wenn ren dabei als höherer Wert denn li, die "Riten", interpretiert wird. Aber dem ließe sich entgegen halten, dass Konsistenz im gegebenen Kontext kein relevantes Kriterium sei. Kurz, die Auseinandersetzung um, grob gesagt, die Frage, ob das Lunyu eine zeitunabhängige Ethik oder eine zeitgebundene Moral formuliere, wird weitergehen. Ich kann nur darauf verwiesen, dass ich mich in meinem Band Konfuzius (Herder 2001) darum bemüht habe, meine Argumente ausführlich und im Detail vorzutragen.

Jeder Leser wird den klaren und ansprechenden Stil schätzen, der Opitz' Erörterungen auszeichnet. Er ist frei von jenem manirierten und überflüssigen Jargon, der so viele deutschsprachige Fachpublikationen charakterisiert; eingeschlossen manche ungenießbaren sinologische Übersetzungen. Außerordentlich hilfreich sind die zahlreichen Tabellen, schematischen Übersichten, die "Einführung in die Literatur des chinesischen Altertums" und das Namenregister. Beckmesser, der ich bin, vermisse ich lediglich ein Sachverzeichnis. Dann wäre dieser Teil geradezu perfekt gewesen.