Franke, Otto: Geschichte des chinesischen Reiches. 5 Bände. Berlin: Walter de Gruyter 2001.
ISBN 3-11-017034-5. DM 248.-

Gregor Paul, Universität Karlsruhe

Bd. 1: Das Altertum und das Werden des konfuzianischen Staates. Unveränderte Neuausgabe der 1965 erschienenen 2., berichtigten Auflage. XXVI+431 Seiten.
Bd. 2: Der konfuzianische Staat I. Der Aufstieg zur Weltmacht. Unveränderte Neuausgabe der 1961 erschienenen 2., berichtigten Auflage. VII+607 Seiten.
Bd. 3: Anmerkungen, Ergänzungen und Berichtigungen zu Band 1 und 2. Sach- und Namenverzeichnis. Unveränderte Neuausgabe der 1961 erschienenen 2., berichtigten Auflage. VII+574 Seiten.
Bd. 4: Der konfuzianische Staat II. Krisen und Fremdvölker. Unveränderte Neuausgabe der 1948 erschienenen 1. Auflage.VII+595 Seiten.
Bd. 5: Anmerkungen, Ergänzungen und Berichtigungen zu Band 4. Namen- und Sachverzeichnis. Unveränderte Neuausgabe der 1952 erschienenen 1. Auflage. VIII+358 Seiten.

Die Neuauflage des Standardwerks von Otto Franke ist zu begrüßen. Dies, zumal über das Interesse am gegenwärtigen China die Beschäftigung mit dessen früher Kultur und Geschichte in problematischer Weise zurück zu gehen droht. Soweit ich sehe, gilt das für den professionellen sinologischen Betrieb sogar in besonderem Maß. Nach meinem Geschmack jedenfalls befasst man sich zu wenig mit vor-Han-zeitlichen Erscheinungen. Mit Frankes Untersuchung sind nun wieder Informationen leicht zugänglich, die sowohl für den interessierten Laien wie für den berufsmäßigen Historiker instruktiv und stimulierend sein dürften.

Franke beginnt seine Darstellung mit Ausführungen über Land und Leute und über die Frühgeschichte und beendet sie mit einem Kapitel über das "Weltreich der Mongolen" (Bd. 4). Band 1 schließt dabei den Abschnitt "Entstehung des Han-Reiches. Das Werden des konfuzianischen Staates" ein (S. 268-320). Im Kontext der seit einigen Jahren geführten Diskussion um und über "den Konfuzianismus" verdient er besonderes Interesse. So erscheint es mir angebracht, sich mit ihm ausführlicher auseinander zu setzen. Außerdem dürfte eine solche Form der Erörterung allgemeineren Äußerungen vorzuziehen sein.

Franke spricht von einem "Konfuzianertum", das es seines Erachtens nach dem Untergang der "Ts'in", d.h. der Qin-Dynastie (221-206), als "Selbstverständlichkeit" ansah, dass die Herrschaft erneut "den Wegen des Altertums" folgen und der Kaiser - das hieß im spezifischen Fall Kao tsu bzw. Gao Di  (reg. 202-195), der die Han-Dynastie begründete - "wieder seine Stellung als Lehrer der Menschheit, als Beauftragter Gottes einnehmen" sollte (S. 270f.). Franke zufolge waren Gao Di "die konfuzianischen Literaten" genauso zuwider, wie ihm Qin Shi Huang Di, der Reichseiniger und erste Kaiser der Qin (S. 272) zuwider war. Erst gegen Ende seines Lebens habe er unter dem Einfluss von Lu Kia (Lu Jia) eine etwas positivere Einstellung entwickelt. Franke zitiert in diesem Zusammenhang die zum geflügelten Wort gewordene Sentenz, dass man ein Reich zwar auf dem Rücken eines Pferdes erobern, aber nicht erhalten könne. Erfolg im Frieden, so die Bedeutung, verlange andere Mittel als Erfolg im Krieg, und zwar vor allem Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Um 195 (v.u.Z.) soll dann Gao Di Konfuzius in dessen Geburtsstadt Qufu ein Opfer dargebracht haben. Mit einem etwa zur selben Zeit veröffentlichten Erlass forderte Gao Di dazu auf, dem Hof die fähigsten Köpfe des Landes zu nennen, so dass er sie zum Dienst heranziehen könne. Dieser Ansatz entsprach dem konfuzianischen Konzept der Meritokratie. Wie Franke darstellt, blieb die Politik Gao Dis freilich letztlich unkonfuzianisch. Sie war primär pragmatische Festigung der Macht und verband eben deshalb Ansätze eines Lehenswesens mit denen einer zentral, d.h. kaiserlich organisierten Bürokratie. Nach dem Tod Gao Dis im Jahr 195 übernahm faktisch dessen Witwe die Macht, eine ungeheuer grausame Frau, deren Walten sich selbst bei größter Phantasie nicht mit "Menschlichkeit" in Verbindung bringen lässt. Als sie 180 starb, fiel der Thron nach gewalttätigen Auseinandersetzungen schließlich an den vierten Sohn Gao Dis, den Kaiser Wên ti (Wen Di, reg. 180-157). Franke beschreibt ihn als "milden, aber doch auch energischen und klugen Herrscher, anspruchslos für seine Person [...], wohltätig und nachsichtig gegen seine Untertanen, dabei nicht frei von Aberglauben und Hang zum Mystischen" (S. 283). Er erlag zeitweise den Lehren von den Fünf Kräften (Holz, Feuer, Wasser, Erde und Metall) und der damit verbundenen Numerologie, die ihm ein von Franke als vermutlicher "Konfuzianer" eingestufter Gelehrter vortrug. Franke spricht auch vom zunehmenden Einfluss "einer Art mystischer Naturphilosophie", die sich unter anderem auf Laozi, dessen Daoismus und den (legendären) Huang Di bezogen habe. Franke hebt hervor, dass diese Doktrinen die traditionelle ju kia, die rujia - die "Schule der Gelehrten", wie die Konfuzianer auf Chinesisch genannt werden - derart beeinflussten, dass "ein völlig neues Konfuzianertum entstand" (S. 287). Die zentralen Sätze lauten:

"Ebenso wie die Anhänger der ju kia [rujia] die Notwendigkeit eines geregelten [im Grunde legalistischen] Rechts- und Strafssystems, von denen das Altertum angeblich nichts wissen wollte, anzuerkennen gelernt hatten, nahmen sie das, was ihr Meister [Konfuzius] ausdrücklich abgelehnt hatte, die Metaphysik, Beschäftigung mit Geistern und unnatürlichen Erscheinungen, in sich auf und betrieben es sogar mit großem Eifer und in recht roher Form. Fast unverändert behielten sie dagegen die Sozial-Ethik mit ihren Ordnungen bei. Jener Konfuzianismus der frühen Han-Zeit ist ein Synkretismus [...]" (S. 287)

Franke formuliert dann die interessante Hypothese, dass sich diese Art Konfuzianismus nicht zuletzt gegen die ihm ja ähnlichen Richtungen von Huang-Di-Lehren, Daoismus und Magiertum durchsetzen konnte, weil er auf eine vergleichsweise alte und umfangreiche schriftliche Überlieferung verweisen konnte. Man muss sich bewusst machen, dass Texte wie das Shujing, der "Klassiker der Urkunden", im Chinesischen ja nicht als "konfuzianisch", sondern als ru-Werke, Schriften der Gelehrten oder Literati, bezeichnet wurden (und werden). In diesem Sinn bestand tatsächlich eine alte Tradition. Die irritierende Missverständlichkeit der Bezeichnung "konfuzianisch" wird in solchen Zusammenhängen offenbar. Wenn Franke also von einem "völlig neuen Konfuzianertum" spricht, ist er gewissermaßen Opfer einer Übersetzer-Tradition. Sein Versuch, für den Leser verständlich, aber eben auch sachgerecht zu formulieren, musste scheitern, so wie noch heute jeder allgemeine Gebrauch von Wörtern wie "Konfuzianismus" fragwürdig ist. Franke benutzt immerhin auch Ausdrücke wie "Literati" oder ru kia, aber gerade den kulturalistischen Debatten der Gegenwart sind solche Feinheiten fremd. Gao Di hatte Qin Shi Huang Dis Verbot des "konfuziansichen" Kanons (aus dem Jahr 213 v.u.Z.) bestehen lassen. Doch um das Jahr 190 wurde es dann aufgehoben. Wên Di sprach bereits von den "sechs kanonischen Büchern", den Klassikern der "Wandlung", "Urkunden", "Lieder", "Musik", den "Annalen von Frühling und Herbst" und den Ritualtexten.

In der Politik Wên Dis zeigte sich Franke zufolge in der Tat so etwas wie konfuzianischer Einfluss. Grob gesagt, soll sie sehr viel humaner gewesen sei als die Gao Dis und seiner Gattin. Nach Sima Qian (145?-86?), den Autor des Shiji, der "Berichte des  Historikers", freilich soll Wên Di , wie Franke zitiert, "im Grunde nur Interesse für Fragen des Strafrechts" gehabt haben. Und das gilt dann in verstärktem Maß für seinen Sohn und Nachfolger King ti (Jing Di, reg. 157-141), der von einem Legalisten beraten wurde. Dies führte dazu, feudalistische Elemente und Lehenswesen weiter einzuschränken und abzubauen und die zentralistische Verwaltung zu stärken. Die Personaleinheit von Landesfürst und Hof- bzw. Staatsbeamtem wurde aufgelöst. Wu ti (Wu Di, reg. 141-87) setzte die Politik der Entfeudalisierung und der Bündelung der Macht in Kaiserhand fort. Zugleich aber entließ er auf Anraten seines Kanzlers jene hohen Beamten, die erklärte Anhänger des Legalismus waren. Unter Wu Di entfaltete auch Tung Tschung-schu (Dong Zhongshu, 179-104) seine erste Wirkung. Er regte unter anderem an, Beamte nach Fähigkeit und über ein institutionalisiertes Lehr- und Prüfungssystem auszuwählen und "alles, was nicht in den Abteilungen der sechs kanonischen Bücher und in den Lehren des Konfuzius enthalten ist", zu unterbinden, um so Einheit im Denken und damit soziopolitische Ordung zu sichern (S. 300). Erstaunlich freilich, dass er dabei, wie Franke klar darstellt, einer Yin-Yang- und-Fünf-Kräfte-Lehre und der Theorie einer Wechselwirkung zwischen der Moralität des Kaisers und dem Naturgeschehen huldigte. Hierin ist, füge ich hinzu, einer der Anfänge für die Legende von der konfuzianischen Doktrin der Einheit von Himmel (Natur) und Mensch (tian ren he yi) zu sehen, mit der jedenfalls der Konfuzius (551-479) des Lunyu, der "Analekten" oder "Gesammelten Worte [des Konfuzius]", nichts im Sinn hatte. Im Jahr 124 wurde dann tatsächlich eine Art Hochschule gegründet, an der "Hofgelehrte der Fünf kanonischen Bücher" unterrichteten. Damit, so Franke, war der [im Westen so genannte] Konfuzianismus der Han-Zeit als offizielle Lehre institutionalisiert: "Maßstab für die Geeignetheit der auszuwählenden Kandidaten wurde die Kenntnis des [so genannten] konfuzianischen Schrifttums, und nur diese allein" (S. 301). Es bildete sich ein "Konfuzianismus", der, so ergänze ich erneut, in seiner metaphysischen, kosmologischen, korrespondenztheoretischen, magischen, ritualistischen, blind traditionalistischen und legalistischen und daoistischen Ausrichtung so gut wie nichts mehr mit dem "Konfuzianismus" des Lunyu  gemein hatte.

Franke unterstreicht, dass die indoktrinierende Kraft dieses Studien- und Auswahl-Systems, das mehr oder weniger ununterbrochen in der ein oder anderen Form bis 1905 bestand, ungeheuer sein musste. Er betont jedoch auch, dass es immer wieder kritische Gegenstimmen gab, wenn sie sich auch nie dominant wurden.

Nebenbei gesagt, gibt Franke nach wie vor instruktive Literaturhinweise. Denn manch ältere sinologische Arbeit gerät über das sachlich oft schlecht begründete Interesse, möglichst viel neueste (Sekundär)literatur zu berücksichtigen, in Vergessenheit. Beispielsweise macht Franke (Bd. 3, S. 159f.) auf die in den Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen, Jahrgänge XXIII-XXV, S. 1ff., von W. Seufert gebotenen Übersetzungen der drei Erlasse Wu Dis und der darauf antwortetenden Denkschriften Dong Zhongshus aufmerksam. Auch Frankes kritische Auseinandersetzung mit der Frage nach der Relevanz, die das Yijing für Konfuzius gehabt haben soll (Bd. 3, S. 163f.), erscheint mir, gerade in der Art, wie er relevante Litertur berücksichtigt, nach wie vor sehr diskutabel. Er kommt zu dem Ergebnis, dass diese Relevanz Null gewesen sein dürfte. "Wahrscheinlich war das Yi zu seiner [Konfuzius'] Zeit ein Wahrsagebuch, für das weder er noch Mêng tsê [Menzius, 372-289] Interesse hatte" (ebd.). Unter Hinweis auf Homer H. Dubs Untersuchung "Did Confucius study the 'Book of Changes'?" referiert er zustimmend, "daß das Gerede über die engen Beziehungen des Konfuzius zum Yi king [Yijing] erst am Ende der Früheren Han-Dynastie [gegen das Jahr Null u.Z.] plötzlich seinen Anfang genommen habe" (ebd.).

Zusammenfassend gesagt, macht Franke unmissverständlich klar, dass der so genannte Konfuzianismus der Han-Zeit viel mit Aberglauben und, wie er wiederholt sagt, Magiertum, zu tun hatte und de facto eine synkretistische, der Stütze absoluter Macht dienstbare, religiös angehauchte Ideologie bildete. Kennzeichnend seien unter anderem die Betonung der unvergleichlichen Macht des Kaisers und solcher Tugenden wie Gehorsam bzw. Ehrfurcht. Ritualismus und blinder Traditionalismus seien schwerlich auf das "Altertum" zurückzuführen. Der so genannte konfuzianische Kanon habe wenig mit Konfuzius zuschreibbaren Ansichten zu tun. Vieles sei im Interesse kaiserlicher Macht und persönlicher Vorteile ersonnene Fälschung. Spätere so genannte konfuzianische Texte wie Daxue und Zhongyong seien "Werke verdächtiger Herkunft" (S. 308). Deutlich wird auch, wie angesprochen, dass die politische Praxis der Han-Kaiser kaum den Menschlichkeitskonzepten des Lunyu, sondern vielmehr legalistischem Denken folgte. Überhaupt sei das ganze System "eher entgegen den Anschauungen des Konfuzius" (S. 316) entstanden.

Gerade das Kapitel über das "Werden des konfuzianischen Staates" ist deshalb geeignet, die vor allem in den Massenmedien kolportierten Konfuzianismus-Vorstellungen zu korrigieren. Es macht, wichtiger noch, klar, worauf sich die Protagonisten "konfuzianischer Werte" tatsächlich beziehen, wenn sie von deren spezifischem Charakter reden: von einer historischen Entwicklung und einer Staatsideologie, die den ethischen und soziopolitischen, Konfuzius zuschreibbaren Konzepten widerspricht. Sie ist so wenig Ausdruck chinesischer Mentalität wie ursprünglich chinesischer Art. Sie war und  ist auch kein unveränderliches Fixum. Selbst die professionelle Sinologie, die sich im interkulturellen Werte-Diskurs engagiert, fällt vielfach hinter Franke zurück. Gewiss wäre Frankes Darstellung noch klarer, wenn er sich dafür entschieden hätte, die Staatsideologie der Han-Zeit gar nicht "konfuzianisch" zu nennen. Aber damit hätte er mit einer Jahrhunderte alten Konvention westlicher Sinologie gebrochen. Dies ist auch im Jahr 2001 noch sehr schwierig. Meines Erachtens irrt Franke nur in einem sachlich wichtigen Punkt. Anders als er bin ich nicht der Ansicht, dass Konfuzius und der frühe Konfuzianismus an einen Gott als Legitimationsinstanz politischer Macht glaubten - wie ich überhaupt die religiöse Komponente des klassischen Konfuzianismus (der Bücher Lunyu, Mengzi und Xunzi) für bestenfalls sehr schwach halte.

Ähnlich instruktiv wie die erörterten Kapitel sind freilich auch die anderen Teile des fünfbändigen Werks. Wer sich für Philosophie und Philosophiegeschichte interessiert, wird deshalb - um wenigstens ein weiteres Beispiel zu geben - auch die Ausführungen über Zhu Xi (1130-1200) mit großem Gewinn lesen. Sie sind aufgrund des unabhängig-kritischen Geistes, den Franke auch da zeigt, instruktiver als die Wertschätzung, die Zhu Xis Lehren aufgrund ihrer spekulativen Metaphysik und ihrer (freilich vielfach leeren) Systematik (auch) von vielen westlichen Sinologen erfahren. Franke sagt klar und deutlich, dass die "metaphysischen Spekulationen" des Neokonfuzianismus "nur durch willkürliche Erklärung von Wörtern und Wendungen der [überlieferten 'konfuzianischen'] Texte ermöglicht wurde" (Bd. 4, S. 292). Er zitiert zeitgenössische chinesische Kritik, die das leere Geschwätz von Neukonfuzianern und die "Hohlheit" der Lehren moniert (Bd. 4, S. 292f.). Ohne die zeitlos anerkennenswerten Leistungen Zhu Xis zu schmälern - sie liegen in den kritischen Ansätzen außerhalb der von ihm geprägten lixue, der "Schule des Prinzips" - macht Franke auf die Implikationen seiner Systematik und der Institutionalisierung dieser Systematik aufmerksam: die Erstarrung und Veräußerlichung auch der Ethik (Bd. 4, S. 396ff.). Wie schon in der Han-Zeit wich die von Konfuzius kommende Idee unpretentiöser  Menschlichkeit schematischem und leerem Ritualismus.

Dass Franke eine vielen nicht ohne Weiteres verständliche Umschrift des Chinesischen verwendet, ist ein Manko, mit dem sich leben lässt. Aber es wäre sinnvoll gewesen, wenn die Neuausgabe durch Konvertierungsübersichten ergänzt worden wäre. Sie wäre erheblich leserfreundlicher geworden. Klar, dass Franke mitunter anders datiert als mittlerweile der Fall. Klar auch, dass ihm manche Quellen noch nicht zugänglich waren. Aber dies beeinträchtigt die Instruktivität seiner Ausführungen kaum und ist im Übrigen ein Schicksal, dem auch kein Standardwerk entgehen kann.